Der Täter / Psychothriller
lange herum, bis sich seine Finger um den vertrauten Gegenstand legten. Stolpernd wirbelte er herum und hockte sich mit dem Gesicht zur Tür und dem Dunkel dahinter auf den Boden. Mit beiden Händen brachte er die Waffe in Anschlag und horchte auf die eiligen Schritte des Angreifers.
Doch es blieb still.
Nur sein Atem, ein angespanntes Keuchen, hallte überlaut durch den Raum.
In seiner Eile hatte er die Leselampe umgeworfen, so dass der Schirm über den Boden gerollt war. Er tastete mit dem Fuß nach der Lampe, zog sie vorsichtig herüber und schaltete sie an.
Das Zimmer war lichtdurchflutet.
So wie ein Kapitän auf hoher See eine Sturmlaterne, reckte er die Lampe in die Höhe, während er langsam auf die Beine kam. Er blickte auf seinen eigenen, langgezogenen Schatten Richtung Wohnzimmer. Er stellte die Lampe ab und tastete sich zu den Wandschaltern vor. Erst jetzt sah er, dass aus dem Wohnzimmer ein dünner Lichtstrahl kam. Mit dem Rücken zur Wand tastete er sich, den Revolver schussbereit, den Abzug gespannt, weiter. Langsam und vorsichtig bewegte er sich – wie in alten Zeiten den Befehl ›Halt! Keine Bewegung!‹ auf der Zunge – um die Ecke. Doch im selben Moment sah er, dass sich seine Vorsicht erübrigte.
Als er auf den schmalen Lichtstreifen starrte, der aus der Eingangsdiele kam, atmete Simon Winter langsam aus. Die Wohnungstür stand ungefähr zwanzig Zentimeter weit offen.
Er machte einen Satz, um dem Mann durch die Nacht zu folgen, erkannte jedoch im nächsten Moment, dass er ihn nicht mehr einholen würde, und blieb stehen.
Er ließ die Luft zwischen den Zähnen entweichen.
Du hast also genau da auf mich gewartet, wo ich dich erwartet hatte.
Er schüttelte den Kopf. Für gar so clever hatte ich dich allerdings nicht gehalten. Oder für so flink.
Du hast das Geräusch hinter dir gehört, und statt erst einmal wie gelähmt dazustehen, hast du sofort gehandelt und dich gerettet.
Das fand der alte Detective beachtlich. Es gab nicht viele Menschen, die so ausgefuchst waren oder deren Selbsterhaltungstrieb so hervorragend funktionierte, dass sie beim ersten unerwarteten Geräusch die Flucht ergriffen. Die wenigsten waren so auf Draht.
Der Schattenmann schon.
Jetzt bist du also auf und davon. Und du bist ziemlich beunruhigt, nicht wahr? Weil du jetzt weißt, dass ich mich von Sophie und den anderen unterscheide. Ich ähnele eher dir ein bisschen, stimmt’s? Das wird dir wohl eine schlaflose Nacht bereiten, aber das nächste Mal bist du umso mehr auf der Hut. Und du wirst dir als Nächstes ein etwas leichteres Opfer suchen, sehe ich das richtig? Aber du wirst auch ein bisschen schwitzen – zum ersten Mal in wie vielen Jahren? So richtig schwitzen, denn jetzt weißt du, dass ich etwas über dich weiß, und das macht dir richtig Angst, nicht wahr? Andererseits wirst du dich damit beruhigen, dass du ja immer noch anonym bist, dass ich weder deinen Namen noch dein Gesicht kenne. Du wirst dir sagen, dass du letztlich vor mir sicher bist, und damit schläfst du ein. Denn du ahnst nicht, dass ich dabei bin, dir auch deine Anonymität zu nehmen.
Simon Winter nickte, als wollte er sich selbst gratulieren. Allmählich lerne ich dich kennen, bemerkte er stumm. Doch die Befriedigung währte nicht lange, denn ihm wurde klar, dass der Schattenmann jetzt genauso viel über ihn in Erfahrung gebracht hatte.
Als Walter Robinson an seinen Schreibtisch im Morddezernat zurückkehrte, warteten mehrere Nachrichten auf ihn. Er hörte sie hintereinander ab.
Ein paar hatten mit anderen ungelösten Fällen zu tun, für die er zuständig war. Eine kam von einem gewissen Mark Galin vom
Miami Herald
, doch er kannte den Reporter nicht, auch wenn er sich vage erinnern konnte, dessen Namenskürzel schon einmal unter einem Artikel gesehen zu haben. Doch es war schon spät, und die Einzige, die er zurückrufen würde, war Espy Martinez.
Sie klang müde, als sie sich meldete.
»Espy? Walter hier. Hast du schon geschlafen?«
»Nein«, log sie. »Na ja, vielleicht ein bisschen gedöst. Wo steckst du?«
»Im Büro. Tut mir leid. Ich hätte dich nicht wecken sollen.«
»Schon okay.« Sie rekelte sich wie eine Katze, die im obersten Fach eines Wandregals in der Nachmittagssonne erwacht. »Ich hab versucht, dich anzurufen. Wo warst du?«
»Rausgefahren, um unseren Mr. Winter ein bisschen besser kennenzulernen. Interessanter Mann.«
»Was auf dem Kasten?«
»Aber hallo! Du müsstest mal seine Personalakte sehen.
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