Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
Morgenlicht an und schlich, die Schuhe in der Hand, bis zum Flur vor der Wohnungstür. Sich wie eine geschickte Einbrecherin lautlos davonzuschleichen, nachdem sie ihm eine Nacht der Leidenschaft geraubt hatte, erfüllte sie mit Stolz und dem Gefühl, voller Geheimnisse und Überraschungen zu stecken. Sie genoss es in vollen Zügen.
    Doch bis sie das Justizgebäude im Zentrum erreicht hatte, waren diese angenehmen Gedanken verflogen, und sie schlüpfte in die Rolle der harten, unnachgiebigen Verhandlungspartnerin, die bei der morgendlichen Anhörung gefragt sein würde. Sie parkte den Wagen, überquerte so energisch den Platz, dass ihre Absätze auf dem Asphalt klickten, und wer sie so sah, konnte nicht den geringsten Zweifel hegen, dass diese Frau wusste, was sie wollte, und nicht die geringste Abweichung von getroffenen Vereinbarungen dulden würde. Ohne ihr Tempo zu zügeln, nickte sie zum Gruß anderen Anwälten und Mitarbeitern der Behörde zu; auch wenn sie ihrer Aufgabe nicht gerade entgegenfieberte, so war sie doch innerlich dafür gewappnet und bereit, sie hinter sich zu bringen und voranzukommen.
    Der Fahrstuhl brachte sie in die Mitte des dritten Stocks, in eine Menschentraube, die vor den Eingängen der dort befindlichen acht Sitzungssäle wartete. Gelegentlich erschien ein Gerichtsdiener an einem der Türschächte und rief in gereiztem Ton einen Namen auf. Diverse Anwälte waren jeweils von einer dichten Schar umringt: Angeklagte und ihre Familien mit besorgten Gesichtern, Polizisten in Uniform, Polizisten in Zivil, die sich die Zeit mit einem Plastikbecher Kaffee vertrieben, bis sie in den Zeugenstand gerufen wurden. Die Halle glich mit dem emsigen Treiben darin einem Hexenkessel, in dem es von Ängsten und Zweifeln, von Widerwillen, Wut und widerstreitenden Gefühlen brodelte. Sie hörte Lachen und Schluchzen, nicht selten aus den Gruppen der gegnerischen Parteien. Die Juristen in ihrem Büro verglichen Terminabsprachen oft mit dem Zusammentreiben von Rindern und ihrem dumpfen Gemuhe. Sie hörte mindestens ein halbes Dutzend Sprachen: Spanisch, haitianisches Kreol, jamaikanisches Patois, Touristen-Deutsch und Englisch in vielen Varianten, vom gedehnten Südstaatenakzent bis zum charakteristischen New Yorker Dialekt. Sie drängte sich durch das Gewühl, bis sie den richtigen Sitzungssaal fand, und blieb einen Augenblick vor dem Eingang stehen. In diesem Moment hörte sie, wie jemand sagte:
    »Da ist sie, da ist sie! Hab ich nicht gesagt, wir sollten uns Plätze reservieren?«
    Sie drehte sich um und sah eine ältere Frau zwischen zwei weißhaarigen Männern stehen. Die Männer trugen die klassische Uniform des Pensionärs von Miami: Bermudashorts, karierte Hemden und Porkpie-Hüte. Die Frau war in einem geblümten Kleid und einer gestreiften Strickjacke erschienen. Einer der Männer schwang einen Rohrstock.
    Geier, war ihr spontaner Gedanke. Sie lächelte ihnen zu. Alle Gerichtsgebäude ziehen einen gewissen Prozentsatz ältere Menschen an, die in den Sitzungssälen hocken und den verschiedenen Fällen mit der Hingabe von Soap-Süchtigen folgen. Nach und nach kennen sie das Gefängnis- und Gerichtspersonal, haben ihre eigene Meinung zu den Verfahren, beurteilen den Auftritt der Staatsanwälte und der Verteidiger, kritisieren die Entscheidungen der Geschworenen, jubeln, wenn die Bösen verurteilt werden. Im Großen und Ganzen waren sie harmlos, gehörten zum festen Inventar und warteten hier und da mit scharfsinnigen Beobachtungen auf. In der Regel aber schliefen sie während der längeren Anhörungen ein, und immer mal wieder musste ein erzürnter Gerichtsdiener ihr Schnarchen unterbrechen und unsanft an einer Schulter rütteln. Die »Geier« legten ihrem Spitznamen alle Ehre ein, denn sie bezogen früh ihre Posten und verschwanden erst am Abend. Espy Martinez hatte sich stets bemüht, freundlich mit ihnen umzugehen und sie sogar beim Vornamen anzureden, falls sie sie kannte, wodurch sie sich bei diesen Leuten, die gewöhnlich die rüpelhaften Kommentare der jüngeren, weniger erfahrenen Anwälte überhörten, allgemeiner Beliebtheit erfreute.
    »Hi, Espy«, grüßte die Frau. »All die Aufregung ist nur wegen Ihnen, meine Liebe.«
    »Was?«, fragte sie begriffsstutzig zurück.
    »Na ja, Ihr Fall stand heute früh in der Zeitung«, fuhr die Frau fort. »Auf Seite eins im Lokalteil. Deshalb sind so viele gekommen.«
    »Ich hab’s dabei«, sagte einer der Männer. Er legte seinen Stock weg und wühlte in

Weitere Kostenlose Bücher