Der Täter / Psychothriller
seinen Dienstrevolver im Schulterholster.
Da ist nichts, und du bist allein, beharrte er, und du benimmst dich ziemlich albern. Dann korrigierte er sich: Man kann nicht vorsichtig genug sein. Schlimmstenfalls ist es dir hinterher peinlich, dass du deinen Instinkten aufgesessen bist, aber das ist es dann auch schon, und die Alternative wäre um einiges schlimmer.
Er ging einige Schritte weiter und hasste dabei das Geräusch, das seine Schuhe auf dem Bürgersteig machten. Wie ein Trommelwirbel, schimpfte er innerlich. Sei leise. Auf Zehenspitzen trat er auf den Grasstreifen neben dem Gehweg, um sich lautlos dem Gebäude zu nähern.
Vor dem Eingang blieb er stehen und ließ die Hand eine Weile über dem Türknauf schweben. Langsam zog er die Finger zurück.
Wenn du diese Tür aufmachst, hört er dich. Er erkennt das Geräusch und steht sprungbereit.
Er wird damit rechnen, dass du wie jeder andere müde alte Mann nach Hause kommst und nichts Eiligeres zu tun hast, als ins Bett zu gehen, um dir ein paar Stunden unruhigen Schlaf zu gönnen. Er wird damit rechnen, dass du mit einem Ruck die Eingangstür öffnest, im Vestibül ungeduldig mit deinem Schlüsselbund herumfuchtelst, deine Wohnung aufschließt und hereinpreschst.
Simon Winter trat von der Tür zurück und huschte in seinen eigenen Schatten. Er lehnte sich an die Seitenwand des Gebäudes und horchte angestrengt auf irgendein ungewöhnliches Geräusch, das ihm die Angst, die sich langsam, aber sicher wie eine Infektion in seinem Körper ausbreitete, bestätigte.
Also gut, dachte er. Wo würde er warten?
Im Hausflur? Nein. Da brennt Licht, und er kennt sich mit den Gewohnheiten der übrigen Bewohner nicht aus. Anders als im Haus von Herman Stein findet er hier kein Versteck.
Also drinnen?
Ja. Drinnen.
Wie wäre er reingekommen?
Das liegt auf der Hand: durch die Gartentür. Genau wie bei Sophie. Dasselbe ausgeleierte Schloss, das schon bei der leisesten Berührung mit einem Schraubenzieher nachgibt.
Und wenn er erst mal drin ist?
Simon Winter ging seine kleine Wohnung durch, führte sich ihren Grundriss vor Augen. Nicht in der Küche; der weiße Linoleumboden reflektiert das Licht von der Straße, es ist zu hell. Auch nicht im Bad, bietet nicht genügend Platz zum Manövrieren. Bleiben Wohn- und Schlafzimmer. Eins von beidem. Er überlegte angestrengt weiter, dann kam er zu dem Schluss: nicht das Schlafzimmer. Er wird damit rechnen, dass ich beim Betreten das Licht einschalte, und abgesehen vom begehbaren Kleiderschrank, der mit Kleidungsstücken, Schachteln und allem möglichen nutzlosen Zeug vollgestopft ist, leuchtete die Lampe jeden Winkel aus. Bleibt also nur das Wohnzimmer. Bietet das größtmögliche Überraschungsmoment.
Winter schlich sich behutsam und geräuschlos um das Gebäude herum nach hinten. Aus einer Wohnung ein Stück weiter weg hörte er das Kläffen eines Hundes. Als er um die Ecke war, ging er schneller voran. Von hier ab kann er mich nicht mehr hören, sagte sich Winter.
Er huschte am rückwärtigen Zaun entlang, indem er das schwache Licht aus dem angrenzenden Wohngebäude mied, und näherte sich geduckt der kleinen gefliesten Terrasse, die zu seinem Apartment gehörte. In der Nähe der Gasse hinter dem Zaun schepperte etwas in einer Mülltonne. Eine Katze, dachte er. Oder eine Ratte.
Während er sich anschlich, führte er in Gedanken mit seinem unsichtbaren Gegner ein Zwiegespräch: Was hast du dabei? Eine Handfeuerwaffe? Gut möglich. Etwas Kleines, Wirkungsvolles. Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig, typische Attentäterwaffe. Aber das Geräusch, das sie macht, kannst du nicht gebrauchen. Würde schnell auf dich aufmerksam machen, egal, wie leise sie dir erscheint. Das ist in Miami und in Miami Beach das Problem. Die Leute können einen Schuss von anderen Geräuschen unterscheiden. Niemand sagt: ›Was war das denn?‹ Oder: ›Das klang wie die Fehlzündung eines Autos.‹ Sie wissen, jemand hat geschossen. Also hast du die Waffe vielleicht nur zur Schau dabei, um jemandem zu drohen. Aber du möchtest keinen Gebrauch davon machen, nicht wahr? Lieber benutzt du wie bei Sophie deine Hände. Das gefällt dir, oder? Ihnen nahe zu sein, wenn sie sterben, stimmt’s? Du liebst die Geräusche der Sterbenden, den Gestank des Todes. Du liebst das Gefühl, wenn sie unter deinem Griff den letzten Atemzug machen. Als du sie damals Schulter an Schulter, Tränen an Tränen, dichtgedrängt in den Viehwaggons sahst, kann es nicht
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