Der Täter / Psychothriller
Staatsanwaltschaft werden je den besten Grund begreifen. Der Rabbi, der kennt ihn, und Frieda Kroner auch. Sehen Sie, wir können eine Leiche begreifen oder auch zwei oder von mir aus auch zwanzig und sagen: Da läuft ein Krimineller herum, den wir zur Strecke bringen müssen. Die beiden hingegen, wenn die den Schattenmann sehen, dann sehen sie Hunderte, Tausende, Millionen, die alle in den Tod gegangen sind. Sie sehen ihre Brüder und Mütter und Väter und Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, Nachbarn, Freunde, Bekannten, einfach alle. Glauben Sie, dass diese Toten für uns je mehr als Zahlen sein werden? Aber für diese beiden sind sie etwas anderes, nicht wahr?«
Simon Winter öffnete die Tür und stieg aus. Dann drehte er sich noch einmal zu Walter Robinson um.
»Sie sollten alte Männer nicht über diese Dinge sinnieren lassen, macht die Sache nur noch komplizierter, was?«
Robinson nickte bedächtig. »Ich glaube«, erwiderte er, »dass wir beide diesen Mann schnappen sollten; dann können wir darüber nachdenken, was er getan hat.« Wieder schwieg er, bevor er hinzufügte: »Alles, was er getan hat.«
»Ja«, sagte Simon Winter. »Wir sollten ihn fassen.«
Er richtete sich auf und schloss die Tür. Als Robinson losfuhr, hob er die Hand zum Abschied. Simon Winter blieb stehen, bis die Rücklichter am Ende der Straße noch einmal aufblinkten und dann um die Ecke verschwanden. Er stand allein auf dem abendlichen Bürgersteig. Mit der feuchten Luft der Tropennacht stieg ihm ein schwerer Geruch in die Nase, als verdampfte irgendwo ein wenig Melasse oder Ahornsirup. Es hatte etwas Trügerisches. Die Wärme täuschte über die Gefahren der Dunkelheit hinweg. Er merkte, wie er auf einmal mit seiner Zielperson ein Zwiegespräch führte: Hast du deine beste, schlimmste Arbeit nach Sonnenuntergang in Angriff genommen? Ist das die Zeit, in der du immer so richtig gefährlich geworden bist? Bei Nacht sind die Menschen dir mehr als bei Tage ausgeliefert; war das die Zeit, in der du ihnen aufgelauert hast? In Nächten wie dieser?
Er gab sich selbst die Antwort: Ja.
Simon Winter horchte auf den fernen Verkehrslärm von der Straße, in den sich die Alltagsgeräusche aus seinem Wohnblock mischten: Fernseher, Musik, anonyme Stimmen, die sich bei einer Auseinandersetzung erhoben. Nirgends Kindergeschrei, wurde ihm bewusst. Nicht in diesem Teil der Stadt. Hier sind wir alle alt, und wir machen alte Geräusche.
Winter machte einen Schritt auf seine Wohnung zu, dann blieb er stehen und starrte auf den leeren Brunnen und den tanzenden Putto in der Mitte.
»Also«, sagte er laut, »was für eine Melodie hast du heute Abend für mich? Etwas Munteres, nehme ich an? Etwas, um mich aufzuheitern?«
Der Engel spielte ungerührt lautlos weiter.
»Na schön«, sprach Winter weiter. »Was hast du heute Abend gesehen? Irgendwas außer der Reihe? Etwas Ungewöhnliches?«
Er starrte dem Engel in die toten Augen, als rechnete er mit einer Antwort. So verharrte er ein paar Sekunden, dann drehte er sich ruckartig um und ließ den Blick über den ganzen Innenhof schweifen. Die Wohnung der ermordeten Sophie blieb dunkel, in den Fenstern der Kadoshs ein Stockwerk darüber schimmerte nur das bläuliche Licht des Fernsehers. Während er dort stand und hinüberspähte, ging das einzige Licht beim alten Finkel aus. Winter drehte sich weiter herum und fixierte seine eigene Wohnung. Die Dunkelheit, die ihm von drinnen entgegenschlug, schien so flüssig und in Bewegung wie das Meer, für dessen Anblick er gerade einen beachtlichen Weg auf sich genommen hatte. Langsam nahm er Stück für Stück den ganzen Hof in Augenschein und achtete dabei auf jeden Schatten, jede Form, jeden Winkel und Wandvorsprung.
Da ist nichts, sagte er sich.
Siehst du jetzt schon Gespenster?
Du bist allein und müde und solltest schlafen gehen.
Er machte einen Schritt, dann blieb er stehen.
Eine Nacht wie diese, musste er wieder denken.
Unwillkürlich atmete er heftig ein.
Aber er kennt mich doch nicht, beharrte Simon Winter. Er weiß nichts von mir, und schon gar nicht, dass ich nach ihm suche. Er glaubt, seine Feinde seien gebrechliche, alte Holocaust-Überlebende mit einem schwachen Gedächtnis und bruchstückhaften Erinnerungen. Auf die hat er es abgesehen. Nicht auf dich. Er hat keine Ahnung von dir.
Oder doch?
In diesem Moment merkte er, dass er unwillkürlich mit der rechten Hand an die linke Brust gegriffen hatte, als trüge er dort wie so viele Jahre lang noch
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