Der Täter / Psychothriller
hättest nie gedacht, dass da draußen jemand herumläuft, für den es eine ebenso große Herausforderung ist, dich zu finden, wie für dich, unerkannt zu bleiben. Und es ist dir niemals in den Sinn gekommen, dass der Mann, der beschließt, dich zu jagen, aus einer Welt kommt, die du nicht kennst. Außerdem weiß auch ich eine Menge über den Tod, vielleicht genauso viel wie du, und auch ich bin alt, und mir bleibt nicht mehr so viel Zeit, dass ich daran allzu viele Gedanken verschwende. Das macht meine Handlungen schwer vorhersehbar und damit mich zu einem gefährlichen Mann; und mit einem gefährlichen Mann hattest du es noch nie zu tun, nicht wahr?
Winter streckte die Hand aus, griff nach einem Kugelschreiber sowie einem Block mit liniertem Papier und fing an, sich einige Notizen zu machen.
Was weiß ich?, fragte er sich. Dann gab er sich die Antwort: Mehr, als ich dachte.
Ich weiß, du bist alt, siehst aber möglicherweise jünger aus. Ich weiß, du bist stark, da du nur fette Jahre kennst.
Wieso tötest du?
Um nicht aufzufliegen.
Winter hielt inne. Das reicht nicht, oder? Da steckt viel mehr dahinter als der Wunsch nach Sicherheit, stimmt’s?
Er grinste. Es gefällt dir, richtig? Du findest es aufregend, dass dich jemand wiedererkennen könnte. Als Sophie Millstein dich vor der Eisdiele mitten im Einkaufszentrum an der Lincoln Road erkannt hat, da hat es dir keinen Angstschauder den Rücken heruntergejagt. Nein, einen Freudenschauer, weil du endlich wieder auf der Jagd warst, denn das ist deine Passion, nicht wahr?
Simon Winter kam in diesem Moment ein schrecklicher Gedanke, und eine Sekunde lang zitterte sein Stift über dem Blatt. Vielleicht hat dich Sophie Millstein nicht zufällig entdeckt. Vielleicht hattest du sie schon eine Weile gejagt. Und die anderen auch. Wie viele?
Er biss die Zähne zusammen. Alles erscheint erst in einem bestimmten Licht, und dann ergeben sich ganz andere Möglichkeiten. Er schärfte sich ein: Halte dich an das, was du nachvollziehen kannst.
Also gut. Er führte weiter Selbstgespräche und versuchte, sich durch die vielen Widersprüche hindurchzumanövrieren, die den Schattenmann ausmachen mochten. Also, was weiß ich noch? Ich weiß, er hat keine Angst vor der Polizei, denn er ist ohne große Vorbereitungen bei mir eingedrungen. Er wollte mir einfach nur das Leben nehmen und die Drecksarbeit mit meinen sterblichen Überresten Detective Robinson überlassen. Er rechnet folglich nicht damit, verhaftet zu werden. Wieso?
Die Antwort war leicht.
Weil er kein Krimineller ist.
Wenn ich heute deinen Namen herausbekäme, was würde er mir dann sagen? Dass du nie verhaftet worden bist. Dass deine Fingerabdrücke nirgends gespeichert sind. Dass du in keiner Verbrecherdatei zu finden bist, weil du noch nie unter Tatverdacht gestanden hast. Nie beim Finanzamt auffällig geworden bist. Hast immer prompt gezahlt, hast deine Kredite bedient und den Leihwagen immer pünktlich zurückgebracht. Wurdest nie wegen des Verdachts auf Trunkenheit am Steuer rangewinkt. Hast nicht einmal ein Knöllchen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung kassiert. Du hast ein stilles, unauffälliges Leben geführt; ein mustergültiges Leben mit einem kleinen Schönheitsfehler: Du tötest Menschen.
Simon Winter atmete langsam aus. Er nickte. Deshalb fühlst du dich sicher. Du weißt, dass die Polizei in einer Welt operiert, die von Routine geprägt ist Er fühlte sich an Claude Rains berühmten Satz in
Casablanca
erinnert: »Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.« Aber du würdest dich niemals in diese Schublade pressen lassen, oder? Du passt nämlich nicht in das Raster von Leuten, auf die wir angesetzt werden. Leroy Jefferson schon, und deshalb hat ihn Detective Robinson so gekonnt aufgespürt. Du dagegen bist kein degenerierter, crackbenebelter Junkie, nicht wahr?
Er legte den Schreibblock auf der Armlehne seines Stuhls ab. Liebend gern hätte er gewusst, ob Walter Robinson seine Phantomzeichnung bekommen hatte. Er spürte plötzlich den dringenden Wunsch, den Mann, dem er in der Dunkelheit seiner Wohnung für einige Sekunden so nahe gekommen war, zu sehen. Ich fange langsam an, dich zu begreifen, Schattenmann, flüsterte er. Und je mehr ich dich verstehe, desto mehr Licht fällt auf deinen Schatten.
Er betrachtete die Bücher, die er um sich gesammelt hatte, und plötzlich kam ihm eine Idee. Ich suche am falschen Ort, dachte er. Ich frage die falschen Leute. Der Rabbi, Frieda Kroner, Esther im
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