Der Täter / Psychothriller
Überwiegend kleine Jungen. Er mochte kleine Jungen. Das war unten im Süden des County, ungefähr da, wo die Everglades bis an die Bucht heranreichen.
Redneck Country
– grober Menschenschlag. Er stammte eigentlich aus dem guten alten Süden. Hätte ständig Dixie vor sich hin summen müssen. Ein paar wilde Tattoos, Dreitagebart, zerfledderte Baseballkappe. Konnte kaum lesen und schreiben. Als es allmählich hell wurde, war er mit seinen Mordgeständnissen bei Nummer siebzehn oder achtzehn angelangt, also sind wir mit ihm da rausgefahren. Er sollte uns zu einer Führung mitnehmen, wissen Sie? Ich kam mir wie ein gottverdammter Busfahrer in einer Touristenfalle vor, wie so ein Horrorgaffer, und ich musste die ganze Zeit daran denken, wie entsetzlich die letzten Stunden dieser Kinder in den Händen dieses Bastards gewesen sein mussten. Zuerst sind wir mit dem Jeep da raus, doch der blieb stecken, also sind wir in eins von diesen Sumpfbooten umgestiegen, mit so einem riesigen alten Flugzeugtriebwerk hinten dran, das einen fürchterlichen Krach macht. Er versuchte, uns zu zeigen, wo er die Leichen gelassen hatte, aber, na ja, es hatte inzwischen so starke Regenfälle und so viel Sonne gegeben, und außerdem sieht es da überall gleich aus, und er zählte nicht gerade zu den Hellsten, also war das Ergebnis ziemlich bescheiden. Am Ende haben wir ihn nur wegen des Falls dranbekommen, aufgrund dessen er verhaftet worden war. Er kam auf den Stuhl, und bis zuletzt hat er behauptet, es wären noch mehr da draußen. Und wissen Sie was? Immer wieder stößt ein Jäger oder Angler in den Wäldern oder im Moor auf irgendwelche Knochen, und jedes Mal denke ich, dass es vielleicht eines der Opfer von diesem Kerl war, aber das konnte man nicht mehr sagen.«
Simon Winter schüttelte den Kopf, während er seine Erinnerungen durchstöberte.
»Hat mich jahrelang verfolgt. Tut es bis heute. Ich musste immer wieder an all die Menschen da unten denken – die Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, was weiß ich, denen ich eine Antwort schuldig geblieben war. Wissen Sie, meiner Meinung nach gehört das zum Wichtigsten, was ein Polizist zu geben hat: Gewissheit. Wenn man sie hat, muss man sie weitergeben, wie schrecklich sie auch sein mag, es ist für die Leute nämlich unendlich viel leichter, mit der schlimmsten Nachricht fertig zu werden, als mit der Ungewissheit zu leben. Verfluchter Sumpf. Da findet man nichts.«
Walter Robinson nickte. »Heute würden wir mit dem Hubschrauber über dieses Gelände fliegen, und mit einer Infrarotkamera könnten wir die Wärme von einer verwesenden Leiche lokalisieren.«
Winter seufzte. »Die Wissenschaft ist etwas Herrliches.«
»Und …?«
»Na ja, ich weiß noch, wie ich, als ich dem Kerl zugehört habe, immer nur dachte, wann hört der endlich auf, aber das tat er nicht. Man bekommt das Gefühl, als sei man in einen Brunnen gestoßen worden. Es ist dunkel und feucht, und vielleicht kommt man nie wieder da raus, und selbst wenn, kannst du dich am Ende nur noch an den Alptraum erinnern. Ich glaube, unser Mann heute hat was davon.«
Robinson holte tief Luft. »Ich schlafe auch nicht besonders gut. Sogar …« Er stockte, und Winter brachte den Satz zu Ende: »… in angenehmer Gesellschaft?«
»Genau. Selbst in angenehmer Gesellschaft. So offensichtlich?«
Winter grinste. »Ich war immerhin mal Ermittler.«
Robinson zuckte mit den Achseln. »Letzte Nacht hatte ich Alpträume.«
»Was für welche?«
»Die naheliegenden. In denen man jemanden ertrinken sieht und machtlos zuschauen muss.«
»Wissen Sie, was mir am meisten Angst gemacht hat?«
»Was?«
»Dass es noch andere Kerle gab wie diesen Jungen aus dem guten alten Süden, der siebzehn, achtzehn oder vielleicht noch mehr Kinder ermordet hat, und dass sie irgendwo frei herumliefen und ich sie nicht schnappen konnte: Sie würden weiterleben und diesen armen Kindern, die nicht die geringste Chance gegen sie hatten, diese schrecklichen Dinge antun, und mit zunehmendem Alter würden sie nur noch schlimmer werden. Am Ende wären sie alt und würden irgendwann friedlich im Bett entschlummern, und obwohl sie das personifizierte Böse sind, kämen sie unbehelligt davon. Jetzt bin ich selbst alt, und ich mache mir Gedanken, dass es vielleicht keinen Himmel und keine Hölle gibt. Es ist mir verdammt noch mal nicht egal, wenn ich mir vorstelle, dass diese Kerle, wenn wir sie nicht hier auf Erden zu fassen bekommen, einfach so hinübergehen
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