Der Täter / Psychothriller
seiner Opfer. Der Schattenmann beschwor das Bild von Simon Winter herauf und nahm eine kurze Einschätzung vor: Er wirkt beharrlich und intelligent. Er verfügt über hervorragende Instinkte. Doch er ist heute Abend nicht hier und wird am Morgen ins Leere laufen. Also, dachte der Schattenmann, er ist vielleicht gefährlich, doch er wird zu langsam sein und nicht Schritt halten können. Und was für Mittel hat er schon, auf die er zurückgreifen könnte? Er ist clever und erfahren. Aber genug, um mich zu finden? Nein.
Dennoch schüttelte er den Kopf und sagte sich: Du hättest ihn in jener Nacht in seiner Wohnung töten sollen. Er hat Glück gehabt.
Aber nicht noch einmal.
Der Schattenmann holte tief Luft und stellte sich das alte Paar oben in der Wohnung vor.
Die sind die wahre Gefahr, rief er sich ins Gedächtnis. Das waren sie immer. Werden sie immer sein.
Es war, als explodierte in seiner Brust eine Leuchtkugel des Zorns, die alte Erinnerungen zündete.
Die waren immer schuld gewesen, von Anfang an.
Sie sind die Einzigen, die sich erinnern.
Sie sind die Einzigen, die mich erkennen können.
Einen Augenblick lang scharrte er ungeduldig mit den Füßen, dann brachte er seine Rage unter Kontrolle, auch wenn ihm der Zorn noch in den Adern pochte. Wie viele waren übrig?, überlegte er plötzlich. Diese beiden? Andere? Wie viele mag es noch geben, die sich an den Schattenmann erinnern?
Vielleicht keine mehr.
Er gestattete sich ein zartes Lächeln.
Vielleicht waren diese beiden die letzten lebenden Personen, die den Schattenmann einst gesehen hatten. Immerhin hatte er viel Zeit in Archiven und Gedenkstätten zugebracht, in Dokumenten geblättert und Videos gesehen, Bücher gelesen und Gesichter studiert. Jahrelange Arbeit. Killerarbeit. Es war unvermeidlich, sagte er sich. Unausweichlich, dass er eines Tages alles erledigt hatte. Die letzten Juden aus Berlin. Und vielleicht waren sie dort oben zum Greifen nahe und warteten im sechsten Stock auf ihr Schicksal.
Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem vertrauten, willkommenen Verlangen.
Und so mahnte ihn zwar sein Schutzengel schon den ganzen Abend lang – seit er in seinem eigenen Wohnkomplex in den Fahrstuhl gestiegen war und zum ersten Mal das Wort »Schattenmann« gehört hatte, seit er die Leute belauscht und von dieser Bekanntmachung in einigen Synagogen erfahren hatte – zur Vorsicht, doch seine Wut hielt dagegen und machte ihm deutlich, dass er sich nicht in eines dieser anderen Leben absetzen konnte, solange er wusste, dass er diese beiden alten Leute zurückließ, die ihn irgendwann in der Zukunft aufs Neue quälen konnten.
Er grinste innerlich.
Es wird mir ein Vergnügen sein, sie zu erledigen, dachte er. Und ein neuer Anfang.
Der Schattenmann sammelte sich. Er handelte mit seiner vorsichtigen Stimme einen Kompromiss aus: Bis morgen Mittag bin ich weg. Ich bringe das hier noch zu Ende, dann setze ich mich auf dem schnellsten Wege ab.
Er hielt sich vor Augen, dass es eigentlich nicht allzu viel Grund zur Sorge gab:
Ich habe alles sorgfältig vorbereitet. Ich habe mir Zeit gelassen. Ich war an drei verschiedenen Tagen im Gebäude des Rabbi und habe es mir vom Keller bis zum Dach vertraut gemacht. Ich habe die Elektrik und den Hauptsicherungskasten überprüft, und ich habe vor der Wohnung des Rabbi gestanden. Ich habe sogar die alten Mikrofilme mit den Architektenplänen beim Bauamt eingesehen und mir den Grundriss der Wohnung eingeprägt. Ich habe einen Plan, und er wird funktionieren.
Es hat immer funktioniert.
Er erinnerte sich an eine Zeit, die viele Jahre zurücklag. Wie ein Traum, der kurz nach dem Erwachen verblasst, stellte sich die Vergangenheit nur schemenhaft ein. Er hatte eine Familie vor Augen und dann die Dachbodenwohnung, in der sie sich, wie er wusste, versteckte. Zwei kleine Kinder, die weinten, als die Bomber darüberflogen; eine Mutter, ein Vater, Großeltern, eine Cousine; alle in zwei kleinen Räumen zusammengepfercht.
Er versuchte, sich an ihre Namen zu erinnern, doch sie fielen ihm nicht mehr ein. Er wusste nur noch, dass sie inständig flehten, sie am Leben zu lassen, und dafür reichlich bezahlten. Und dann waren sie wie all die anderen gestorben. Sie waren wie Ratten, dachte er, die in irgendwelchen tiefen Spalten hausten. Doch er hatte immer gewusst, wie er sie ausräuchern konnte.
Er blickte den Wohnblock hinauf.
Als ob ich das nicht schon oft gemacht hätte, dachte er.
Er bückte sich und hob einen kleinen
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