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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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verstehen. Oder ein guter Läufer sein. Oder sie bestechen. Sie waren Verräter, aber einige von ihnen waren selbst gegen Ende nicht ganz und gar verroht …«
    Der Rabbi atmete langsam aus.
    »Aber keiner wusste, wer
er
war. Es kam einem so vor, als hätten die Nazis diesen Golem einfach erfunden. Ein Gespenst.«
    »Und können Sie ihn beschreiben?«
    »Er war groß, so wie Sie …«, fing Frieda Kroner an, doch Irving Silver schüttelte den Kopf und winkte ab.
    »Nein, Frieda, nein. Er war klein, wie ein Frettchen. Und älter. Erwachsener …«
    »Nein«, unterbrach ihn der Rabbi gereizt. »Er muss jung gewesen sein, sonst hätte er nicht überlebt. Jung und kräftig, ehrgeizig und gerissen.«
    Sie sahen einander an und verfielen in Schweigen.
    »Jung, wie wir damals waren«, sagte der Rabbi, »kann uns die Erinnerung heute Streiche spielen …«
    »Ich war klein, wie Sophie«, erzählte Frieda Kroner. »In meinen Augen sahen alle Männer groß aus.«
    »Mein armer Bruder Martin war trotz allem groß und stark, und so war für mich jeder, der nicht an ihn herankam, klein …«
    »Wissen Sie, Mr.Winter«, erklärte der Rabbi, »der Schattenmann war besser als irgendjemand bei der Gestapo. Er war wie ein Gespenst. Wo er in Erscheinung trat, herrschte Dunkel, selbst am Tage. Wie ein … wie nennt man das noch gleich, Irving?«
    »Ein Irrlicht.«
    »Und wir alle wussten«, fuhr der Rabbi kalt fort, »dass man sich nicht mehr verstecken konnte, wenn er einen erst mal aufgespürt hatte.«
    »Aber konnte man ihn denn nicht bestechen?«
    »Ja und nein«, erwiderte Irving Silver. »Vielleicht hörte man plötzlich in einer dunklen Gasse eine Stimme, und man versprach ihm Geld und händigte ihm alles aus. Doch dann kam die Gestapo trotzdem; derjenige, den der Schattenmann berührt hatte, kam in den Keller und seine ganze Familie auf den nächsten Zug ins KZ . Er verwischte seine Spuren. Fand er einen, dann war es, als würde man vom Erdboden verschluckt.«
    Frieda Kroner schnappte nach Luft. Unter einer plötzlichen Erinnerung zitterte sie heftig, doch als die anderen sie ansahen, hob sie die Hand und brachte kein Wort heraus.
    »Aber Sophie. Sie drei. Mr.Stein. Einerseits sagen Sie …«
    »Fehler, Irrtümer«, nahm ihm der Rabbi das Wort aus dem Mund. »Niemand sollte überleben, aber manche sind eben doch davongekommen. Das war ein Fehler. Und jetzt, fünfzig Jahre danach – werden diese Fehler nicht gerade ausgemerzt?«
    Irving Silver bebte, und Frieda Kroner tupfte sich die Augen.
    Simon Winter nickte. Es fiel ihm schwer, die Angst dieser Menschen nachzuvollziehen, doch sie war mit Händen zu greifen. Einen Moment lang sah er sich all die einfachen, gewöhnlichen Dinge an, die sich über das Zimmer breiteten. Eine große Menora aus Messing. Fotos von Freunden und Familienmitgliedern. Ein fein gesticktes Tischtuch. Doch all dies schien in eine Dunstglocke der Erinnerungen gehüllt.
    Rabbi Rubinstein sackte schwer in seinen Sessel zurück. »Es ist nicht einfach, sich all das als alter Mensch ins Gedächtnis zu rufen«, gestand er ein. »Es reißt die alten Wunden wieder auf.« Er seufzte. »Ich hatte vergessen, wie es ist, gejagt zu werden.«
    Die anderen nickten.
    Simon Winter hatte den Impuls, dem Mann die Hand auf den Arm zu legen, doch stattdessen sagte er wohlüberlegt: »Eines verstehe ich immer noch nicht: Wieso sollte dieser Mann ausgerechnet hier sein? In Miami Beach, wo es überdurchschnittlich viele Überlebende gibt? Muss er hier nicht mehr als irgendwo sonst damit rechnen, erkannt zu werden? Wieso ist er nicht in Argentinien oder Rumänien oder an irgendeinem anderen sichereren Ort?«
    Irving Silver schüttelte den Kopf. »Hier ist er am sichersten.«
    »Wie das?«
    »Sie verstehen das nicht, Detective Winter«, erklärte Rabbi Rubinstein, der langsam begann und mit jedem Satz schneller wurde: »Der Schattenmann war kein Nazi! Er gehörte nicht der Gestapo an! Auch nicht der SS ! Er war Jude wie wir! Für ihn gab es keine Organisation wie Odessa, keine Gruppe wie das Eiserne Kreuz, die ihn nach dem Krieg in Sicherheit und in die Freiheit brachte! Er war ganz auf sich gestellt!«
    »Aber es muss Organisationen gegeben haben. Das Rote Kreuz. Gruppen, die Vertriebenen halfen …«
    »Selbstverständlich! So bin ich hergekommen.«
    »Ich auch«, sagte Frieda Kroner.
    »Ich nicht. Bei mir waren es entfernte Verwandte«, erzählte Irving Silver. »Aber wer hätte schon dem Schattenmann geholfen? Nicht

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