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Der Täter / Psychothriller

Der Täter / Psychothriller

Titel: Der Täter / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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tot …«
    Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Im Keller der Haftanstalt Plötzensee – ein schrecklicher Ort, Mr.Winter. Ein Ort, an dem qualvolle Todesarten die Regel waren und die Nazis sogar noch schlimmere erfanden. Folterbänke und Fleischerhaken und Guillotinen und Garotten, Mr.Winter.«
    »Es hieß, seine Augen seien die letzten, die man lebend zu sehen bekäme«, erklärte Irving Silver in ausdruckslosem Ton. »Sein Atem an der Wange wäre die letzte Erinnerung, die man mit hinübernähme.«
    »Woher wussten Sie das?«
    »Ein Wort hier, eine aufgeschnappte Unterhaltung dort«, sagte Frieda Kroner. »Es machte die Runde. Die Leute redeten. Ein Ladenbesitzer mit einem Kunden. Ein Polizist mit einem Vermieter. Ein Gesprächsfetzen, den man im Park oder in der Straßenbahn aufschnappte. Und dann haben es die Mütter ihren Töchtern erzählt, so wie meine mir. Väter ihren Söhnen. Auf diese Weise erfuhren wir alle vom Schattenmann.« Sie atmete langsam aus, als bereitete ihr jedes Wort zu diesem Thema Qualen.
    »Aber Sie drei. Und Mr. Stein. Und Sophie. Sie haben alle überlebt …«
    »Wir hatten Glück«, meinte der Rabbi. »Zufall? Unterlaufene Fehler? Die Nazis waren so effizient, Mr.Winter, dass sie uns aus heutiger Sicht manchmal wie ›Übermenschen‹ erscheinen. Dabei waren so viele von ihnen kleine, erbärmliche Bürohengste! Und so kamen eben manche von uns aus diesem Keller heraus, um im Güterzug in den Tod zu fahren.«
    Bei diesem Stichwort schluchzte Irving Silver auf.
    Sie drehten sich alle zu ihm um und sahen, dass seine Augen gerötet waren und er die Hand auf den Mund gepresst hielt, damit es nicht wie eine Sturzflut aus ihm hervorbrach. Er atmete wieder schwer und rang nach Luft.
    »Mein Bruder«, würgte er hinter der geballten Faust hervor, »kam in den Keller.«
    Die anderen schwiegen.
    »Ach, der arme Martin«, stöhnte Irving Silver. »Mein armer Bruder Martin.«
    Nach einer Weile wanderte sein Blick zu den Übrigen.
    »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Die Erinnerung tut so weh, aber wir
müssen
uns erinnern.«
    Irving Silver atmete tief durch.
    »Wir erinnern uns und der Schattenmann auch. Er muss geglaubt haben, er hätte uns längst getötet, und nun wird er es erneut versuchen. Wir waren alle noch halbe Kinder, Mr.Winter, und das war wohl auch der Grund, weshalb wir ihm entkamen. Mein älterer Bruder war für ihn eine Bedrohung, also …«
    »So wie mein Vater …«, murmelte der Rabbi.
    »Und meine Mutter«, fügte Frieda Kroner hinzu.
    »Das kann Sie alles eigentlich nicht überraschen, Mr.Winter«, meinte der Rabbi. »Wie Frieda schon sagte. Wenn wir keinen Frieden kennen, weil in uns die Erinnerung weiterlebt, wieso sollte es bei ihm anders sein?«
    Irving Silver ergriff Frieda Kroners Hand und drückte sie fest. Sie nickte.
    Simon Winter hatte das Gefühl, als erfasste ihn eine gewaltige Strömung und zöge ihn ins tiefe Meer, immer weiter von der Küste fort. Alle Ermittler, dachte er, greifen bei ihrer Arbeit auf ihr Gedächtnis zurück. Ein Verbrechen ähnelt dem anderen. Ein drittes nimmt das vierte vorweg. Selbst bei den außergewöhnlichsten Fällen gibt es Verbindungslinien: ein Motiv wie etwa Gier; eine Waffe, sei es ein Messer oder eine Pistole; Indizien: Fingerabdrücke, Blutspuren, Haar- oder Faserproben, was auch immer. Und alle diese Fäden bilden ein Grundmuster des Verbrechens. Aber das hier, die Dinge, von denen die drei alten Menschen sprachen, gehörten einer Kategorie von Verbrechen an, die jeder Beschreibung spottete.
    Er hatte nicht gleich eine Antwort zur Hand. Das Schweigen zog sich hin.
    »Ich denke, ich sollte noch mehr über diesen Mann erfahren. Wer war er? Irgendjemand muss doch gewusst haben, wie er hieß; woher er kam. Jemand muss seine Familie gekannt haben …«
    Frieda Kroner überlegte nur kurz. »Niemand konnte sich für irgendetwas, das er über ihn wusste, verbürgen. Er war anders als die anderen.«
    »Er war anders, in der Tat«, bestätigte der Rabbi leise. »Er war wie ein Messer im Dunkeln. Die anderen, sehen Sie, die kannte man. Wenn der Greifer einen kannte, dann kannte man umgekehrt wahrscheinlich auch den Greifer. Vielleicht aus der Synagoge, dem Wohnhaus oder dem Wartezimmer beim Arzt, vom Schulhof, egal woher, aus der Zeit, bevor die Rassengesetze eingeführt wurden. Wenn man also die Augen offen hielt, dann war man ihnen vielleicht immer, nun ja, eine Nasenlänge voraus. Man musste sich aufs Untertauchen

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