Der Täter / Psychothriller
Jefferson City, Alabama. Es war sehr heiß, und mein Vater hat stundenlang geheult. Haben wir alle.«
Der Professor holte wieder tief Luft. Simon Winter hörte, wie seine Stimme zu zittern begann.
»Sehen Sie, mein Vater, Mr.Winter, verstand etwas von Schulden.«
Winter fiel darauf keine passende Antwort ein. Doch er kam nicht in Verlegenheit, denn der Professor war offensichtlich noch nicht fertig.
»Ich schweife ab. Tut mir leid.«
»Nein, nein. Ganz und gar nicht. War Ihr Vater Akademiker wie Sie?«
George Washington Woodburn Stein lachte laut, als sei er erleichtert, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »O nein, ganz und gar nicht! Er war Juwelier. Die Familie in Berlin hatte mit antikem Schmuck gehandelt. Deshalb hatte er schon als kleines Kind Englisch gelernt. Und Französisch. Sie sind viel gereist. Sie waren Kosmopoliten. Sie gehörten zu jenen Juden in Deutschland, die solche Dimensionen des Bösen nicht für möglich gehalten hatten. Sie konnten ihren Familienstammbaum mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Mein Großvater muss sich für einen eingefleischteren Deutschen gehalten haben als die Leute, die ihn schließlich in den Tod schickten.«
»Juwelier?«
»Ja. Ein Mann von unglaublicher Präzision, wenn er an Steinen arbeitete. Mein Vater hatte ein ausgeprägtes Fingerspitzengefühl, eine echte Gabe. Er beherrschte die Kunst der Akkuratesse, Mr.Winter. Er liebte Juwelen, weil sie, wie er sagte, unvergänglich sind. Wie ein Stück von Shakespeare – das ist mein Metier – oder ein Gemälde von Rembrandt oder ein Klavierkonzert von Mozart. Unsterblich, befand er. Die Steine entstammen der Erde, aber sie überdauern. Für ihn besaßen sie ein eigenes Leben. So etwas wie Persönlichkeit und Charakter. Er sprach mit den Fassungen, während er daran arbeitete. Er hatte die Hände eines Chirurgen. Das ist übrigens meine Schwester geworden. Und Augen wie ein Scharfschütze. Sogar am Ende seines Lebens war seine Sehkraft noch phänomenal …«
Die letzten Worte brachte der Professor nur mühsam heraus, dann verstummte er.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Simon Winter.
»Ähm, ja und nein.«
»Ihnen geht etwas durch den Kopf?«
»Ja. Mr.Winter, ich weiß nicht, ob …«
Er hielt inne.
Winter hakte taktvoll nach: »Was ist, Professor?«
Die Stimme in der Leitung wirkte unsicher. »Ich kenne Sie nicht, Mr.Winter. Ich kann Ihr Gesicht nicht sehen. Es fällt mir schwer, mich mit einem Unbekannten über Zweifel auszutauschen.« Der Professor griff jetzt zu einer seltsam gestelzten, zunehmend förmlichen Sprache.
»Ich bin auch ein alter Mann«, erwiderte Winter geradeheraus. »Wie Ihr Vater. Ich bin ein alter Mann, der einmal Detective war, und einige alte Menschen haben mich darum gebeten, herauszufinden, ob dieser Mann, dieser Schattenmann, tatsächlich hier in Miami Beach ist. Sie haben Angst, und ich habe bis jetzt noch keine Antwort auf ihre Befürchtungen, Professor. Sie wussten nicht, ob sie Ihrem Vater glauben sollten, als er ihnen versicherte, er hätte den Schattenmann gesehen. Sie wollen nicht glauben, dass er hier ist. Aber dann hat eine zweite Person behauptet, ihn gesehen zu haben. Und auch diese Person ist jetzt tot. Und aus diesem Grund rufe ich Sie an.«
»Noch jemand?«
»Ja. In diesem Fall war es Mord.«
»Jemand wurde ermordet? Aber wie?«
»Es gab einen Einbruch. Dem Anschein nach ein Drogenabhängiger.«
»Demnach nicht jemand wie der Schattenmann?«
»Davon geht man derzeit aus.«
»Und wo liegt die Verbindung zum Tod meines Vaters?«
»Es gibt nur eine: Sowohl Ihr Vater als auch diese andere Person glaubten, kurz vor ihrem Tod den Schattenmann gesehen zu haben.«
Der Professor ließ die Auskunft auf sich wirken. »Das ist bemerkenswert«, meinte er schließlich verblüfft. Er verstummte, dann fuhr er fort: »Wissen Sie, so etwas hätte meinem Vater gefallen, Mr.Winter.«
»Gefallen?«
»Ja. Er bewunderte Krimiautoren. Ich habe keine Ahnung, wie er zu diesem Faible gekommen ist, aber er verschlang Sir Arthur Conan Doyle und Agatha Christie und P. D. James. Besonders hat er die Reihe von Harry Kemelman über den Rabbi, der Verbrechen aufklärt, geliebt. Kennen Sie die?«
»Nein, leider nicht.«
»Die sind wirklich faszinierend. Einmal hat er mich gezwungen, ein paar davon zu lesen, etwa um die Zeit, als ich meinen Doktor machte. Er begründete den Vorschlag damit, ich liefe große Gefahr, langweilig zu werden. Allzu viele gelehrte, akademische
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