Der Täter / Psychothriller
zurückwirft …«
Zur Demonstration streckte Simon Winter im Zeitlupentempo die Hände aus und sackte dann auf seinem Sitz zurück.
»… na ja, müsste die Waffe nicht ein Stück weiter weg sein?«
Der junge Detective schmunzelte. »Sie haben’s immer noch ganz schön drauf, Mr.Winter. Ja, schon möglich … Wenn es so ein kleines Ding, Kaliber zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig wäre. Aber dieser alte Achtunddreißiger muss Tonnen gewogen haben. Unhandlich wie ein Ziegel. Der konnte nicht weit fliegen.«
Simon Winter nickte. »War abgeschlossen, als die Putzfrau kam?«
»Ja. Wie gesagt, sie ist mit ihrem Generalschlüssel reingekommen. Was das betrifft, ist alles klar.«
Simon Winter nickte. »Ich würde mich trotzdem über diese Kopien freuen.«
»Kein Problem. Behalten Sie das nur für sich. Sind immerhin offizielle Polizeidokumente. Wir verstehen uns?«
»Also, ich denke, die Vorschriften sind noch mehr oder weniger die gleichen, seit ich hinter so einem Schreibtisch saß.«
Detective Richards lachte und trat an ein Kopiergerät, während Winter sitzen blieb und sich die letzten Momente im Leben von Herman Stein vor Augen führte. Es ist alles absolut klar und eindeutig, dachte er – andererseits auch vollkommen verquer und unmöglich. Beides zugleich.
Es erforderte eine Menge Geduld, sich durch das interne Telefonnetz der University of Massachusetts zu manövrieren. Jedes Mal, wenn er es mit der Direktwahl von Professor G. Washington Stein versuchte, geriet er ins telefonische Niemandsland. Erst, als er nach einigen Mühen die Sekretärin des Instituts für Anglistik am Apparat hatte, gelangte er ans Ziel. Er hatte diese Art von Telefonaten schon immer gehasst, bereits zu seiner Zeit als Detective. Doch immerhin tröstete ihn der Gedanke, dass seit dem Tod von Herman Stein Monate vergangen waren und bei seinem Sohn die Wunden hoffentlich schon ein wenig verheilt waren.
»Professor Stein?«
»Ja. Keine Verlängerungen. Die Abschlussarbeiten sind am Mittwoch fällig. Wer spricht da bitte?«
»Professor, mein Name ist Simon Winter …«
»Sie sind kein Student?«
»Nein, ich bin Detective. Ich rufe aus Miami an.«
»Ein Detective? Und in welcher Angelegenheit ermitteln Sie?«
Winter schwieg einen Moment, während er versuchte, eine möglichst knappe, präzise Antwort zu finden. Ihm fiel keine ein.
»Professor, ich muss mich bei Ihnen dafür entschuldigen, dass ich mich in einer schmerzhaften Angelegenheit an Sie wende, aber Ihr Vater hat kurz vor seinem Tod einen Brief an meine« – hier stockte er bei dem Versuch, die drei alten, verängstigten Menschen in der Wohnung des Rabbi ins Spiel zu bringen – »meine Klienten geschrieben …«
»Mein Vater hat einen Brief geschrieben? An wen?«
»An einen Rabbi, den er nicht kannte. Einen Mann, der während des Krieges in Berlin gelebt hatte, bis er denunziert und in ein Konzentrationslager verschleppt wurde.«
»Verstehe. Einen Brief an einen Mann, den er nicht kannte? Was stand in diesem Brief?«
»Er hätte einen Mann wiedererkannt, den er seit …«
»… dem Krieg nicht mehr gesehen hat.«
»Ja, richtig. Dieser Mann …«
»Den Schattenmann«, ergänzte der Professor in kaltem Ton.
Winter klopfte vor Aufregung das Herz. »Ja, das stimmt.«
Professor Stein schien tief Luft zu holen, und für einen Augenblick herrschte Schweigen in der Leitung. Dann fuhr er in nüchternem Ton fort:
»Mein Vater hat den Schattenmann oft gesehen, Mr.Winter. Er sah ihn in seinen Träumen, daraus wurden Alpträume, und er wachte nachts schreiend und schwitzend auf, so dass meine Mutter Stunden brauchte, um ihn wieder zu beruhigen. Er sah ihn in einer Schlange vor der Bank oder in einer Menschentraube vor einem Kino oder im Supermarkt mit einem Einkaufswagen. Er sah den Schattenmann auf der Schnellstraße an uns vorbeifahren oder an der nächsten Bushaltestelle warten. Einmal habe ich ihn zu einem Baseballspiel im Fenway Park mitgenommen, und er ist dem Schattenmann in der Herrentoilette begegnet. Ein anderes Mal erspähte er ihn in der Zuschauermenge bei einem Spiel der New York Knicks, das wir uns im Fernsehen angeschaut haben. Mr.Winter, der Schattenmann war allgegenwärtig. Er spukte meinem Vater immer im Kopf herum.«
Simon Winter sackte schwer zurück. Er saß in seinem eigenen Wohnzimmer, mitten auf seinem abgewetzten Sofa und hatte vor sich auf dem Tisch einen Schreibblock und mehrere angespitzte Bleistifte zurechtgelegt. Mit einem
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