Der Tag an dem die Sonne verschwand
körperlich betätige (ja, ein paar Liegestütze, ein wenig Hanteltraining, sonst aber nichts). Übrigens verriegele ich meine Wohnungstür zur Nacht genauso wie früher, habe mir sogar vor Wochen, als ich noch durch die Straßen strich, in einem Haushaltswarengeschäft eine Sicherheitskette aus dicken Metallringen besorgt und sie an meinem Türrahmen angebracht.
Nach dem Aufstehen gehe ich stets zuerst zum Fenster und schaue nach draußen. Hat sich irgendetwas verändert? Wie ist die Temperatur? Schneit es? Ist es immer noch dunkel? Und jeden Morgen schalte ich das Radio und den Fernseher ein, in der Hoffnung, irgendetwas zu hören oder zu sehen, das auf Überlebende hindeutet. Aber alles ist immer tot. Genauso wie das Telefon und das Internet.
Dann kümmere ich mich um meinen Ofen. Ich säubere ihn, hege den letzten Rest Glut vom Vortag, schütte die Asche aus dem Fenster und hole Kohlen und Holz aus der Anna-Thomas-Wohnung. Danach frühstücke ich: Müsli, Brot, eine Tasse Kaffee, etwas Süßes und eine Tasse Tee. Anschließend säubere ich die Wohnung, auch wenn es gar nicht nötig ist.
Und ich widme mich ausführlich meiner Körperpflege. Dazu zwinge ich mich. Würde ich physisch verkommen, verkäme ich auch psychisch. Und dagegen will ich mit aller Kraft ankämpfen. Ich möchte ein Mensch bleiben.
Danach beginne ich zu lesen. Hätte ich die Bücher nicht, könnte ich nicht mehr leben. Ich lese wie ein Wahnsinniger, werde entführt in die gegensätzlichsten Welten, verweile dort lange. All die fremden Geschichten, Dramen, Leiden und Freuden lassen mich meine Wirklichkeit vergessen – und schenken mir so Trost. Momentan gehe ich mit Kafka durch sein Schloss, verliere mich in Sternes Tristram Shandy (»Nicht die Dinge bringen die Menschen in Verwirrung, sondern die Ansichten über die Dinge«) – und begleite Maria Riva durch das Leben Marlene Dietrichs. Ich lese parallel. Sitze dabei immer auf meinem Sofa, das direkt am Fenster steht. Und so kann ich, wenn ich Lesepausen einlege, hinaussehen in die unendliche Finsternis.
Irgendwann in den frühen Nachmittagsstunden bereite ich mir dann ein kleines Essen aus meinen Vorräten zu. Ich esse nur, weil ich essen muss. Es macht mir keine Freude. Deshalb bin ich mittlerweile auch auf fünfundsechzig Kilogramm abgemagert. Bei einer Größe von einem Meter fünfundachtzig könnte man mich durchaus als hager bezeichnen. Nach dem spärlichen Mittagsmahl lese ich wieder. Und schreibe an diesen Aufzeichnungen. Ich hätte schon früher damit beginnen sollen. Denn letztendlich ist das Schreiben eine noch bessere Ablenkung als das Lesen. Es verringert die Last auf meinem Herzen, und im Formulieren und Erzählen wohnt die Hoffnung, irgendwann könnte irgendwer Anteil nehmen an meinem Schicksal. Und wäre es nach meinem Tod.
Jeden Abend gehe ich dann eine Runde durch mein Haus, das ich seit drei Wochen nicht mehr verlassen habe. Der Haupteingang ist jetzt komplett zugeschneit. Da ich inzwischen alle Wohnungstüren aufgebrochen habe, um mir das Haus übersichtlicher und zugänglicher zu machen, stehen mir Dutzende von Räumen zur Verfügung, die ich durchwandern kann. Ich nehme stets denselben Weg: Zuerst laufe ich durch das Treppenhaus nach ganz unten, dann beginne ich meinen Rundgang in der linken Parterrewohnung und arbeite mich langsam nach oben. Ich spaziere durch die Zimmer, schaue mir alles immer aufs Neue an, berühre jedoch nichts, öffne auch keine Schränke und Schubladen. Aus Respekt vor den Bewohnern (oder muss ich sagen »ehemaligen Bewohnern«?) der Wohnungen. Es ist mein Abendritual. Danach lese ich wieder, aber keine Bücher, sondern alte Wochenmagazine. Seit über zehn Jahren sammle ich die Zeitungen. Beim Lesen der Magazine habe ich das Gefühl, auf einer Zeitreise zu sein. Dabei trinke ich Wein. Und vor dem Schlafengehen höre ich mindestens noch eine Stunde Musik.
Das ist mein Leben.
5. EINTRAG
Seit heute Morgen gibt es keinen Strom mehr. Auch das bis zuletzt erleuchtete Nachbarhaus liegt jetzt im Dunkeln. Nun ist es also passiert. Alles ist dunkel. Auch der Osthimmel hat sich schon vor Tagen wieder verfinstert. Wäre der Schnee nicht, ich hätte das Gefühl, in einer gigantischen Gruft gefangen zu sein. Die niedergehenden Flocken aber gaukeln mir eine gewisse Welt-Lebendigkeit vor, und das Weiß des Schnees, das selbst bei dieser Dunkelheit gut wahrzunehmen ist, mildert die Umstände, in die ich hineingeraten bin.
Wie von einer Ahnung gesteuert,
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