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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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über den Tod gesprochen, als philosophisches Thema, als theoretisches Phänomen, beide aber waren wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir sehr alt werden würden, und wir sahen uns schon gemeinsam in einer nett-schrillen Alten-WG zusammen mit ein paar Freunden unseren Lebensabend verbringen. Während vieler Spaziergänge über Friedhöfe, sowohl an unseren Wohnorten als auch auf Reisen, diskutierten wir immer wieder darüber, wie jeder von uns, wohlgemerkt in fernen Tagen, beigesetzt werden möchte.
    Ich wollte ins Feuer – für Marie aber kam das überhaupt nicht infrage. Sie sagte: »Ich will, dass mein Körper zu Erde wird, mein Blut zu Wasser, mein Atem zu Wind, und meine Gedanken sollen sich auf ewig im Weltall verlieren.« Ich weiß bis heute nicht, wie sie auf diese poetisch klingende Formulierung gekommen war. Jedenfalls fand ich ihren Satz so berührend, dass er sich tief in meine Erinnerung eingebrannt hat.
    Für mich aber wäre es einfacher gewesen, in ihrem Grab lediglich eine Urne, gefüllt mit einem Häuflein Asche, zu wissen.

6. EINTRAG
    Heute ist der 17. September, und nach ungefähr vier Wochen war ich zum ersten Mal wieder draußen. Ich musste es tun. Ich habe es in der Wohnung nicht mehr ausgehalten.
    Es liegt unvorstellbar viel Schnee. Von hier oben könnte man meinen, alle Straßen wären bis weit über die ersten Stockwerke der Häuser mit einer hellweißen Masse zugeflossen. Kein Auto ist mehr zu erkennen, kein Abfallcontainer – und von einer Litfasssäule ragt nur noch das obere Viertel mit seinem dick verschneiten Hut wie ein Riesenpilz aus der weißen Masse heraus. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Nicht einmal in den Bergdörfern der Alpen, in Nordskandinavien oder Kanada. Das Thermometer steht konstant auf minus elf Grad. Und dem Himmel sei Dank, meine Wasserleitungen sind nicht eingefroren und funktionieren noch.
    Schon in der Frühe, es war so gegen sieben Uhr, bin ich bei leichtem Schneefall aufgebrochen. Ich habe mein Haus durch das Fenster einer Wohnung im ersten Stock verlassen. Der Schnee dort reicht bis an den am äußeren Fensterrahmen befestigten Blumenkasten. Also konnte ich sofort losgehen. Sackte zwar mit meinen Tiefschneeschuhen bestimmt dreißig Zentimeter ein, was jedoch egal war, nur beschwerlich eben. Aber ich kam voran – und das zählte.
    Während ich mich durch die finstere Schneestille quälte, entlang den Häuserwänden, vorbei an den dunklen, toten Wohnungen und Schaufenstern, dabei nur meine eigenen Gehgeräusche hörend, ach, wie überkam mich da eine tiefe Sehnsucht nach all dem, was ich früher so verabscheut hatte: Straßenlärm, Hektik, Auspuffgase, gestresste, herumhetzende Passanten und der immer dichter werdende Verkehr. Was hätte ich für einen ganz normalen Smog-Tag unter lebendigen Menschen gegeben.
    Das Ziel meines Ganges durch die Schneetiefen war St. Aposteln, eine romanische Kirche im Nachbarviertel. Ich weiß nicht, warum ich in eine Kirche wollte. Ich, der schon mit achtzehn Jahren diesen Verein verlassen hatte, der weder mit der Lehre, geschweige denn mit der Institution etwas anfangen konnte, ja, dem eigentlich alle Gläubigen auf der Welt, egal, welcher Religion sie auch angehörten, suspekt waren. Aber nun wollte ich in eine Kirche – und das »Warum« interessierte mich nicht. Ich kämpfte mich durch die Straßen und empfand dabei fast so etwas wie eine leichte, irreale Hoffnung.
    Nach knapp einer halben Stunde stand ich vor St. Aposteln. Ihre stark verschneiten Türme ragten in die schwarzen Wolken und das Kirchenschiff lag majestätisch mitten auf einem weitläufigen, quadratischen – von eng aneinandergebauten, alten Häusern begrenzten – Schneefeld. (Die Kirche steht zentral auf dem größten Platz unserer Stadt.) Ich ging ganz nahe heran und überlegte, wie ich ins Innere des Gebäudes gelangen konnte. Der Haupteingang war natürlich völlig zugeschneit. Also stapfte ich nahe der Kirchenmauer hin zu einem großen Fenster, auf dem das Szenario der Kreuzigung prächtig dargestellt war. Ich berührte das Glas, tastete es ab, schaute entlang der Seitenmauer nach rechts, nach links – und musste einsehen, dass es wohl keine andere Möglichkeit gab, in die Kirche zu kommen, als dieses wundervolle Fenster, oder ein anderes ebenso schönes, zu beschädigen. Ich zögerte, hatte Skrupel, überlegte, ging ein paar Schritte zurück, um noch einmal alles zu überblicken – doch mir kam keine andere Idee.
    Und so begann

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