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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Eintagsfliegen.
    Seit Maries Tod gab es keine gute Zeit mehr für mich. Ich habe viel gearbeitet, das heißt sinnlose Fotos gemacht, mich ab und zu mit ein paar Freunden getroffen und ansonsten sehr zurückgezogen gelebt. Mit Maries Tod sind alle meine Träume zerfallen. Ich hatte keine Lust mehr, zu reisen, keine Lust mehr, irgendwelche Pläne zu schmieden, und es gab nichts, worauf ich mich auch nur ein wenig hätte freuen können. So sind die Jahre vergangen. Und je mehr die Jahre wurden, desto mehr wurde die Sehnsucht nach Marie. Ich glaube nicht daran, dass die Zeit alle Wunden heilt. Nein, sie verändert nur die Wunden – aber sie heilt sie nicht. Zumindest ist es bei mir so. Ich kann bis heute nicht glauben, dass sie tot ist – und ich werde mit meiner Schuld nicht fertig. Täglich rasen die Marie-Erinnerungen aus fernen Tagen in mein Bewusstsein, so wie tausend und abertausend Meteoriten täglich auf die Erde niedergehen. Ich kann mich dessen nicht erwehren. So, wie auch die Erde nicht imstande ist, dem Bombardement aus dem All auszuweichen. Marie und ich haben so viel miteinander erlebt, dass oft schon ein kurzer Eindruck sofort eine lange Assoziationskette auslöst – hin zu uns, in unsere Zeit.
    Noch zwei Jahre nach ihrem Ende konnte ich keine klassische Musik hören. Es ging einfach nicht. Zu groß war die Traurigkeit, der Schmerz. Sie liebte klassische Musik über alles. Beinahe jedes Wochenende gingen wir damals in ein Konzert, zu einem Liederabend oder in die Oper.
    Die erste CD, an die ich mich dann wieder heranwagte, waren Vivaldis Vier Jahreszeiten . Und der Schmerz wich der Illusion, ihr durch die Musik ganz nahe sein zu können, weil ich exakt das zu empfinden meinte, was sie immer beim Hören der Melodien empfunden hatte. Diese Illusion hält bis heute vor – und sie tut mir gut.
     
    Jetzt, da es keinen Strom mehr gibt, werde ich auf die Batteriegeräte zurückgreifen. Das schmälert zwar erheblich die Intensität des Hörerlebens, aber es ist besser als nichts.
     
    Drei Wochen nach Maries Beerdigung bin ich von meiner Wohnung zu ihrem Grab gegangen . Etwa einhundert Kilometer. Zweieinhalb Tage habe ich dafür gebraucht. Es sollte ein Bußgang sein. Aber die lange Wanderung hat mein Herz noch mehr zerrissen. Als ich auf dem Friedhof ihrer Stadt ankam, peitschte mir der Regen ins Gesicht, und es begann zu dämmern. Ich glaube, ich war der einzige Mensch auf dem Totenacker. Und dann stand ich vor dem aufgeschütteten Erdloch, in das man sie versenkt hatte. Ein paar Kränze welkten vor sich hin, die Schleifen klebten nassverschmutzt am Boden: DEINE MUTTER. DEIN DICH ÜBER ALLES LIEBENDER BRUDER. DEINE TANTE ELISABETH. DEIN JAN. DEINE ARBEITSKOLLEGEN TOM, ALEX, CONNY, ALICIA .
    Ich setzte mich auf die Steinbegrenzung und heulte und heulte. Bis es dunkel war. Dann holte ich mein Geschenk für Marie aus der Innentasche meiner Jacke. Es war ein großes Kuvert. Ich schob einige Kränze zur Seite und wühlte etwa auf Kopfhöhe des Sarges ein Loch in den Boden. Dort hinein legte ich das Kuvert und füllte die ausgegrabene Stelle wieder mit reichlich Erde auf. In dem Umschlag befand sich ein aktuelles Foto von mir, auf dessen Rückseite ich ein Rilke-Gedicht geschrieben hatte.
    Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
    In der ersten Zeit nach ihrem Tod musste ich mir fast zwanghaft immer und immer wieder vorstellen, wie meine Marie dort unten, in diesem nassen und kalten Dreckloch, verfiel, verfaulte. Es gibt kein Wort auf der Welt, das meine Verzweiflung und meinen Schauder darüber hätte zum Ausdruck bringen können. Die Haut meiner schönen Marie, die ich so oft liebkost und geküsst hatte, löste sich auf, wurde von Bakterien zersetzt und von Würmern gefressen.
    Mein Gott! Später dann ist es mir gelungen, diese Vorstellungen radikal zu unterdrücken. Die wiederkehrenden Todestage allerdings waren ein Alptraum für mich. Schon Wochen vorher – das furchtbare Datum vor Augen – geriet alles in mir außer Kontrolle. Kam dann der Tag, so raubten mir Trauer und Schmerz fast den Verstand. Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer.
    Marie und ich hatten oft

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