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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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habe ich gestern vor dem Schlafengehen in kolossaler Lautstärke zweimal hintereinander Mozarts Requiem gehört. Welch eine Symbolik. Und welch ein Glück, dass es genau diese CD war. Denn das Requiem ist für mich das Größte, was ich je gehört habe. Vielleicht liegt ein Atemzug Gottes in dieser Musik. Wenn es ihn denn gibt.
    In allen Zimmern habe ich Kerzen aufgestellt.
     
    Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es woanders aussieht. Ob es wirklich auf der ganzen Welt dunkel und kalt ist? Auch in Afrika, der Südsee, in Australien oder Asien? Liegt Schnee im südamerikanischen Dschungel? Sind alle Meere zugefroren? Haben sich die Wüsten der Welt in unendliche Schneefelder verwandelt? Ist es in Sibirien oder Grönland noch kälter als hier? Und die Millionen-Metropolen New York, Mexiko-City, Peking, Bangkok, Tokio, Jakarta: verschneit, vereist, wie meine Stadt? Vielleicht existieren viele große Städte gar nicht mehr, weil es zu gigantischen Zerstörungen gekommen ist, durch Flugzeugabstürze, gewaltige Feuer oder Explosionen.
     
    Wenn irgendwo doch noch Menschen existieren sollten, sind sie alleine wie ich? Oder leben sie in kleinen Gruppen? Wie empfinden sie die unerklärlichen Ereignisse? Was gibt ihnen Hoffnung? Oder haben einige, falls es überhaupt einige gegeben hat, in ihrer Verzweiflung bereits den Tod gesucht? Wohin ist die Sonne am 17. Juli verschwunden? Und warum reißt die Wolkendecke nie auf? Allein das Funkeln der Sterne oder den Lichtschein des Mondes zu sehen, wäre für mich eine so große Freude, ja ein erhabenes Erlebnis.
     
    Wie oft ich den vergangenen Jahren schon darüber nachgedacht habe, ob ich Marie verkläre und idealisiere. Natürlich ist die Gefahr groß, genau dies zu tun, nachdem ein geliebter Mensch gestorben ist. Und die Gefahr ist vermutlich noch größer, wenn gewaltige Schuldgefühle mit der Trauer einhergehen. Deshalb habe ich mich nach ihrem Tod mit aller Kraft dazu gezwungen, sie realistisch zu sehen. Bis heute. Habe im Nachhinein manchmal sogar krampfhaft nach schlechten Charaktereigenschaften gesucht. Bin weit in unsere Vergangenheit zurückgegangen, um auch noch die fernsten Erinnerungen an sie zu durchforsten, unter die Lupe zu nehmen – aber, und das macht es mir so schwer: Ich fand und finde nichts entscheidend Negatives. Ja, es gab Kleinigkeiten, aber die sind so banal, dass ich gar nicht weiter darauf eingehen möchte. Das Einzige, was ich kritisieren könnte, war ihre Milde mir gegenüber. Sie hätte mir härter und strenger begegnen sollen. Sie hätte sich vieles nicht gefallen lassen dürfen. Sie hätte mir eindeutigere Grenzen setzen müssen. Aber sie war eben kein massiver Mensch, keine dominante Persönlichkeit. Sie hat ihren Unmut oft genug zum Ausdruck gebracht, auf ihre Weise. Ich aber habe ihn lax zur Seite geschoben, wohl wissend, dass mir nichts passieren konnte. Ich hatte sie ja im Sack. Unbewusst empfand ich so. Heute ist mir das klar. Und schon bin ich wieder bei meiner Schuld. Sie war einfach eine gute und mitfühlende Frau, großzügig und so wenig ichbezogen, wie nur wenige Menschen es sind, beziehungsweise waren. Ich finde nichts, was meine Meinung über sie relativieren könnte. Damit muss ich leben.
    Am Tage ihrer Beerdigung habe ich mir geschworen, nie wieder einen Menschen zu belügen oder zu betrügen – was mir, das kann ich mit Stolz sagen, auch gelungen ist. Ich kniete vor ihrem offenen Grab und war vor Scham unfähig, »Verzeih mir« zu denken. Ich kniete lange – und warf dann einen Strauß bunter Wiesenblumen auf ihren Sarg. Sie mochte so gerne bunte Wiesenblumen. Das war der grauenhafteste Augenblick meines Lebens.
    Nie zuvor hatte mich eine Frau so geliebt wie Marie. Und nie zuvor war ich mit einer Frau so glücklich gewesen wie mit Marie. Und dennoch habe ich sie so oft verletzt, belogen, betrogen und mich von meiner Ich-Sucht und Sexgier treiben lassen. Wenn ich mir die Zahl meiner Fehltritte und mein Fehlverhalten vor Augen führe, müsste ich eigentlich zur Strafe sofort erblinden. Das wäre das Mindeste. Wie viele Frauen hatte ich heimlich neben ihr? Siebenundzwanzig waren es in all den Jahren. Siebenundzwanzig! Und nach jedem vollendeten Akt mit einer dieser Frauen fühlte ich mich schmutzig und hatte ein schlechtes Gewissen. Doch schon wenige Wochen später war das alles wieder vergessen, und ich machte mich erneut auf die Jagd nach Weibern. Mit einigen hatte ich öfter Kontakt, die anderen waren für mich

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