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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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genommen, sie in meine Taschen gesteckt, ohne wirkliche Wertschätzung. Wie viele Menschen habe ich bedingungslos geliebt? Ich habe immer zu wenig geliebt, so sehe ich es jetzt. Verzeih mir, mein Julchen! Verzeiht mir, Vater und Mutter!
    Wie lebt man richtig? Ich glaube, in Demut.
    Gott, Energie, Macht, Herz, wie immer ich dich auch nennen mag: Gib mir Gelassenheit, damit ich das Unveränderbare annehme. Gib mir Kraft, damit ich das Veränderbare verändere. Und gib mir die Weisheit, ein jedes als solches zu erkennen …
    So saß ich lange auf der Holzbank – und irgendwann dachte ich keine Sätze mehr, keine Worte, sondern versank bei geschlossenen Augen in eine mir bis dahin unbekannte Stimmung, die ich nicht zu beschreiben vermag. Bis mich die Kälte zurückholte. Ich fror. Sehr sogar. Blickte auf zu den brennenden Kerzen, zu dem leidend am goldenen Kreuz hängenden Jesus und beschloss, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Ich löschte die kleinen Flammen, stapelte ein paar Stühle, die ich hinter einer Säule entdeckt hatte, unter meinem Einstiegsfenster aufeinander und kletterte hinaus. Dicke Flocken wehten durch die Luft. Ich zog meine Schneeschuhe wieder an und machte mich auf den Rückweg.
     
    Jetzt bin ich seit einer Stunde wieder zu Hause. Meine Wohnung vermittelt mir eine fast wohlige Sicherheit. Der Ofen glüht, ich habe mir Tee gekocht und ein paar Kerzen brennen. Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, wie es sein könnte, oder wie es einmal war. Ich bin gesund, habe zu essen, und es ist warm. Das ist meine Gegenwart, und nur um sie geht es. Das muss ich mir immer wieder vor Augen halten.
    Gleich nach dem Essen werde ich ein neues Buch zu lesen beginnen.

7. EINTRAG
    Licht. Ich habe solche Sehnsucht nach Licht. All meine Erinnerungen an Helligkeit erscheinen mir unwirklich. Als kämen sie aus sehr fernen Zeiten oder sehr schönen Träumen. War ich es, der reale Lorenz , der einst unter dem verschwenderischen Blau des toskanischen Himmels wanderte? Oder am sonnenflirrenden Meer saß, auf Kreta im Juli, und Wein trank? War ich es, der vor Jahr und Tag des Abends auf einem alpinen Berggipfel stand und die Sonne bestaunte, wie sie einem Feuerball gleich über die Massive rollte? Oder war ich es, der im gleißenden Wüstenlicht bei über fünfzig Grad im Schatten mit einem Jeep Richtung Algier rauschte? Ich kann es kaum glauben. So eine Wirklichkeit gab es einmal? Für mich?
     
    In genau einer Woche, am ersten Oktober, hätte Marie Geburtstag. Ich habe Angst vor diesem Tag, wie jedes Jahr. Denn ihr Geburtstag ist auch unser Geburtstag.
    Wir lernten uns an einem ersten Oktober kennen. Auf einer Nordseeinsel. Sie machte dort alleine Urlaub. Ich ebenfalls. Vier Tage hatte ich vor zu bleiben. Und schon am Nachmittag des ersten Tages begegneten wir uns. Ich war lange unterwegs gewesen, war bei Sturm und Regen den Strand entlang um die halbe Insel gewandert. Dann aber wurde es mir doch zu nass und zu kalt, und ich kehrte in ein kleines Café, direkt hinter den Dünen, ein. Es war fast leer. Ich bestellte Tee mit Rum und eine Portion heiße Waffeln und ließ es mir schmecken.
    Ich mochte die Nordsee schon immer, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. So kam es, dass ich mindestens zweimal im Jahr für einige Tage oder länger eine der friesischen Inseln besuchte. Manchmal mit Freunden, oft aber auch alleine.
    Mein erster Eindruck von Marie damals war: Sie fiel mit der Tür ins Haus. Auch sie hatte einen Spaziergang gemacht und wollte etwas Warmes trinken. Sie öffnete die Eingangstür des Cafés, stolperte genau beim ersten Schritt in den Raum und schlug der Länge nach vor die Kuchentheke. Die ganze Szene mutete extrem komisch an, da Marie vor Schreck einen spitzen Schrei ausstieß und ihren kurz zuvor abgenommenen Regenhut nach oben in die Luft schleuderte, der dann wiederum in der Kuchentheke mitten auf einer Sahnetorte landete. Ich musste unweigerlich lachen. Die Bedienung eilte der Gestrauchelten zu Hilfe, fragte, ob alles in Ordnung sei, und schien sehr aufgeregt und besorgt. In diesem Moment hatte ich mein Grienen bereits wieder unterdrückt und war nun auch sehr neugierig auf ihre Antwort, da der Sturz, wenn auch lustig, so doch sehr heftig ausgesehen hatte. Eine Verletzung wäre durchaus denkbar gewesen. Aber Marie schmunzelte, stand schnell auf, beruhigte die Kellnerin und fing selbst schallend zu lachen an, als sie ihren Hut auf der Sahnetorte sah. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie, »ich

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