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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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ich, das untere Viertel des Glases mit der Faust einzuschlagen. Klirrend gingen die Scherben im Innenraum zu Boden. Ich schlug aber nur so viel kaputt, dass es für den Einstieg reichte. Und dann hockte ich vor dem schwarzen Loch, streckte den Kopf in das Kirchenschiff, leuchtete mit einer Taschenlampe umher – vor allem nach unten, um zu sehen, wie tief ich springen müsste. Ich schätzte die Höhe auf knapp zwei Meter, was also kein Problem darstellte. Aus dem Kircheninneren strömte mir ein Geruchsgemisch entgegen, wie man es nur aus alten Gotteshäusern kennt: verbrauchter Weihrauch, muffiges Holz, kalter Stein. Ich zog meine Schneeschuhe aus, stellte sie vorsichtig neben das Fenster, zwängte mich dann durch die eingeschlagene Scheibe – und mit einem Satz war ich im Inneren von St. Aposteln.
    Ich schaltete meine Taschenlampe ein, lenkte den Lichtstrahl auf den Marmorboden, zu den Bänken, an die gewölbten Decken und hin zum Altar. Es war ein schlichter Altar, geschmückt mit einem goldenen Kruzifix, neben dem, rechts und links, zwei große weiße Kerzen standen. An einigen Säulen der Kirche konnte ich Malereifragmente erkennen, und aus den Wandnischen schienen mich in Stein gehauene Heilige zu beobachten. Ich ging zum Altar. Und mir war, als würde ich den großartigen Raum mit meinem albernen Taschenlampenlicht entweihen. Also schaltete ich die Lampe aus, kramte in meiner Hosentasche nach Streichhölzern und zündete die beiden Altarkerzen an. Das war ein merkwürdiger Augenblick: Da stand ich ganz alleine in dieser riesigen Kirche, in absoluter Stille, vor mir nur zwei brennende Kerzen, deren Lichtschein sich im Dunkel des gesamten Innenraums allmählich verlor, und draußen versank die menschenleere Welt im Schnee – aber ich verspürte eine so tiefe Gemütsruhe, wie ich sie eigentlich noch nie empfunden hatte. Ich trat ein paar Schritte zurück, setzte mich auf die Holzbank der ersten Reihe – und mein Gehirn geriet in Zwiesprache mit sich selbst.
    Ist Gott hier? Wie tröstlich das wäre. Warum denke ich, wenn ich an »Gott« denke, immer an den christlichen Gott? Ist Buddha hier? Oder Brahma, Vishnu, Shiva oder Allah? Ist Gott glücklich? Immer? Komme ich aus dem Nichts – und kehre ich in das Nichts zurück, für immer? Oder bin ich Teil eines großen, für mich nie zu begreifenden Ganzen? Aber was ist Ich? Gehört eine Seele dazu? Was aber ist eine Seele? Nur die Erfindung des Menschen, um sich gegen die grausame Verlorenheit, in der er sich ahnt, aufzulehnen? Warum eigentlich geht ein jeder davon aus, dass Gott »gut« ist? Vielleicht ist Gott das Böse schlechthin – und das Gute nur eine Degeneration des Bösen? Kommt es auf Gott überhaupt an?
    Ich habe Sehnsucht nach Gott. In mir. Sehnsucht, mich mit dem Wesen der Welt zu versöhnen. Was bin ich? Immer gewesen: rastlos, gierig, bequem, selbstsüchtig, wenig bescheiden. Ich möchte von mir ablassen und möchte lernen zu verzeihen. Aber jetzt gibt es niemanden mehr, dem ich verzeihen könnte. Wäre es feige, mir das Leben zu nehmen? Vermutlich ja. Denn vielleicht hat alles seinen Sinn, auch meine jetzige Situation, die Einsamkeit, die Kälte, die Dunkelheit.
    Warum habe ich nicht gesehen, dass Marie ein beinahe vollkommen guter Mensch war? Sollte es eine Abfolge von Wiedergeburten geben, so stand sie wohl auf der letzten Stufe vor dem erlösenden Nirwana. Was ist Schuld? Kann es überhaupt Sühne geben? Kann eine neue, gute Tat eine frühere, schlechte vergessen machen, gar tilgen? Ich glaube nicht. Aber dennoch gilt es, so viel Gutes wie möglich dem Schlechten entgegenzusetzen. Kann man sich selbst vergeben? Ich weiß es nicht. Was ist Gewissen? Und wie entsteht es? Wo ist Marie? Weiß sie um mich und meine Lage? Was würde sie mir sagen? »Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Baum und Stein, Kein Baum sieht den andern, Jeder ist allein.« Sie mochte Hesse nie, dafür diese Zeilen umso mehr. Wiegt schlechtes Denken genauso schwer wie schlechtes Handeln? Ich bin davon überzeugt. Und welchen Wert hat eine gute Tat, wenn dahinter ein schlechter Gedanke steht? Vermutlich nur einen sehr geringen. Wie verblendet ich bisher durchs Leben gegangen bin! Wie ich meine Zeit verschwendet habe, so, als lägen noch mindestens einhundertfünfzig Jahre vor mir! Was ist die Liebe? Wie entsteht sie? Wie vergeht sie? Wie viele Menschen haben mich bedingungslos geliebt? Ja, die Eltern. Und Marie. Und ich habe die Liebe immer als selbstverständlich

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