Der Tag an dem die Sonne verschwand
prächtiges Feuerwerk, Punkt null Uhr ging es vor ihrem Haus los, fast zehn Minuten dauerte es – und sie stand wie benommen vor Freude und Glück neben mir am Fenster. Ein anderes Mal hatte ich heimlich ihre zwei ehemals besten Freundinnen aus den USA einfliegen lassen, beide waren dorthin ausgewandert. Am Geburtstagsvormittag sagte ich zu Marie, nachdem ich ihr ein paar kleine Geschenke gegeben hatte: »Der Rest ist im Kleiderschrank, mach mal vorsichtig die Türen auf.« Und wer saß im Kleiderschrank und begann sofort beim Öffnen der Türen zu singen? Annett und Christine! Während das Geburtstagkind im Bad gewesen war, hatte ich die Mädels im Schrank versteckt. Und Marie konnte es nicht fassen, lief im Raum umher und rief immerzu: »Das glaub ich nicht, das träum ich nur!« – bis sie dann endlich ihre Freundinnen in die Arme schloss.
Die restlichen Geburtstage waren wir auf Reisen. Auch an ihrem letzten. Ich hatte für uns eine idyllische Berghütte in der Schweiz gemietet. Traumhaft gelegen, im Wallis, auf fast zweitausend Metern, mit grandioser Aussicht. Die Hütte war eine Überraschung. Sie wusste zwar, dass wir in die Schweiz reisen würden, aber alles andere hatte ich geheim gehalten. Als wir nach langer Serpentinenfahrt endlich neben dem kleinen Holzhaus standen, sprudelte Marie vor Begeisterung geradezu über – so gut gefiel ihr die Hütte. Ich hatte nichts anderes erwartet, ich kannte ja ihren Geschmack, und doch freute ich mich riesig über ihre Reaktion.
Es wurde ein beschaulicher Geburtstag. Das Wetter war schön und ruhig, so dass wir viele Stunden wanderten. Und erst am Nachmittag sollte es die »Bescherung« geben. Ich schenkte ihr die gesammelten Werke der Maria Callas (eine besondere und seltene Edition), eine orangefarbene Tisch-Neonlampe, die wie eine kleine tanzende Frau aussah (hergestellt in limitierter Auflage), sowie ihr Lieblingsparfüm. Dann blieben wir in der Hütte und schauten uns von dort aus den Sonnenuntergang an. In dem Moment, als die Sonne hinter einem Gipfel verschwand, goss der Oktoberabend dunkelrotes Gold über die Berge, und Marie sagte zu mir: »Ich möchte noch ganz viele so schöne Geburtstage mit dir erleben.«
Dieser Satz ist seit ihrem Tod die Hölle für mich. Die Erinnerung an ihn war immer stärker als jede Gegenwart.
8. EINTRAG
Heute ist der zweite Oktober. Ich habe weit über dreißig Stunden geschlafen. Maries Geburtstag sozusagen übersprungen, mit Valium, sehr viel Valium. Mein Kopf tut mir weh.
Draußen ist etwas ausgesprochen Bedrückendes geschehen. Ich habe es vorhin beobachtet. Es schneite nicht mehr, wie schon seit Tagen. Schwarzgrau der Himmel, die Luft ohne Bewegung, starrende Kälte. Und dann zog langsam Nebel auf. Aus allen Himmelsrichtungen, und nach etwa einer halben Stunde war mein Haus, waren meine Fenster vollkommen umhüllt von Nebelschwaden.
Nun vermag ich überhaupt nichts mehr zu sehen. Nichts. An meinen Scheiben wabert ein milchiger Dunst. Strecke ich einen Arm nach draußen, kann ich meine Fingerspitzen nicht mehr erkennen. So dicht ist der Nebel. Gab es früher auch Nebel bei minus elf Grad? Ist das überhaupt möglich? Aber was für eine absurde Frage – es gibt ja keine Normalität mehr.
Ich habe sämtliche Gardinen in meinen Zimmern zugezogen, weil mir der Blick in den Nebel unheimlich ist. Mir kommt es dann vor, als sähe ich Gesichter, Augen oder Münder. Es kann eben alles immer noch schlimmer kommen. Wie gerne stünde ich jetzt am Fenster und würde einem Schneetreiben zuschauen. So, wie ich es in den letzten Wochen und Monaten allzu oft getan habe.
Warum eigentlich bin ich nicht auf die Idee gekommen, mir irgendwoher einen Stromgenerator zu besorgen? Das Leben hier in meiner Wohnung wäre mit Strom so viel einfacher und angenehmer. Ich hätte zwar nicht gewusst, wo es so etwas gibt und wie man damit umgeht, aber das wäre kein Grund gewesen, mich nicht auf die Suche nach einem solchen Gerät zu machen. Nun ist es zu spät dazu.
Und was tue ich, wenn kein Wasser mehr aus dem Hahn fließt? Zum Kochen und Trinken kann ich auf meine Mineralwasservorräte zurückgreifen, zum Wäschewaschen und zur Körperpflege werde ich mir Schnee ins Haus holen und ihn schmelzen. Es wird schon irgendwie gehen.
Seit knapp drei Monaten habe ich jetzt nicht mehr gesprochen. Abgesehen von kleineren Selbstgesprächen. Schweigen verändert das Denken. Vielleicht sogar die eigene Identität. Vor vielen Jahren hatte ich
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