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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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habe wohl ein wenig geträumt, und die Torte bezahle ich natürlich.« Eine andere Angestellte zog den Hut aus der Sahne, säuberte ihn unter fließendem Wasser und reichte ihn über die Theke. Dann nahm Marie am Nachbartisch Platz und grüßte mich freundlich.
    Ich fand sie auf Anhieb umwerfend. Blonde, mittellange Haare, circa einen Meter siebzig groß, schlank, wunderschöne blaue Augen, eine Stupsnase und ein so einnehmendes Strahlen in ihrem Gesicht, dass ich gar nicht weggucken konnte. Sie bestellte Kaffee und einen Linienaquavit. Und genau darüber kamen wir ins Gespräch. Ich zögerte gar nicht lange, lächelte zu ihr hinüber und fragte sie nach dem Unterschied zwischen Aquavit und Linienaquavit. Weil sie zuvor bei der Kellnerin unbedingt auf einen Linien-Aquavit bestanden hatte. Und ich hörte von ihr die nette Geschichte, dass nur der Aquavit sich mit dem Begriff Linie schmücken dürfe, der in einem Schiff zweimal den Äquator überfahren habe. Durch das besondere Schaukeln im Schiffsrumpf in eigens dafür vorgesehenen Fässern erhalte das Getränk sein feines und sanftes Aroma. Das hatte ich nicht gewusst. Also bestellte ich gleich auch ein Gläschen, um das feine Aroma zu loben, und dann noch eins, und auch Marie, die mittlerweile an meinem Tisch saß, hielt mit, bis wir beide schließlich bestimmt fünfmal angestoßen hatten und in sehr ausgelassener Stimmung waren. »Eigentlich wollte ich dieses Jahr meinen Geburtstag in aller Ruhe und Besinnlichkeit verbringen … und was tue ich? Ich sitze mit einem fremden Mann in einem Café und trinke schon am Nachmittag Hochprozentiges«, sagte sie. Da war es also heraus. Sie hatte Geburtstag. Einunddreißig wurde sie. Und ich war der erste Mensch an jenem ersten Oktober, der ihr gratulierte. Was natürlich gleich eine weitere Linienaquavit-Runde nach sich zog. Es wurde ein so schöner Nachmittag, ein so schöner Abend. Wir verstanden uns sofort, lachten, erzählten. Auch sie liebte die Nordsee, die Inseln, den Geruch dort, das Watt, die Seehunde, die Ruhe, Ebbe und Flut – und bevor wir uns zum Abendessen verabredeten, machten wir noch gemeinsam einen kleinen Spaziergang am Meer.
    Das war der erste Spaziergang mit Marie. Es sollten noch so viele folgen. Überall, auf sämtlichen Kontinenten. Reisen wurde später unsere liebste Freizeitbeschäftigung. Und obwohl ich schon, vor meiner Marie-Zeit, viel von der Welt gesehen hatte – die Welt zusammen mit Marie zu sehen war das Größte.
    Aus den geplanten vier Nordseetagen wurden sechs, die wir von morgens bis abends gemeinsam verbrachten. Wir erzählten uns unsere Leben, und ich fühlte schon damals eine Glückseligkeit, wie ich sie nur während meiner ersten großen Liebe erlebt hatte. Geschlafen aber habe ich mit Marie erst zwei Monate später, obwohl wir uns sehr oft besuchten und meistens die Wochenenden zusammen verlebten. Warum das so war, weiß ich bis heute nicht. Mit den Frauen vor Marie lag ich normalerweise spätestens am zweiten Tag schon im Bett, länger hätte ich es gar nicht ausgehalten. Bei Marie jedoch fühlte ich ganz anders. Wir näherten uns einander sehr langsam, es war von Anfang an eine stille und tiefe Liebe, die nicht von schierem Begehren bestimmt wurde. Entsprechend fantastisch erlebten wir dann unseren ersten Sex. Es war Liebes-Sex, also das Schönste, was es überhaupt gibt. Und bis zu ihrem Tod habe ich ihren Körper und ihre Seele immer als Einheit gesehen. Beides begehrte ich gleichermaßen, und das Gefühl der Heimat nach einem gemeinsamen Orgasmus war für mich die intensivste Körper-Geist-Erfahrung, die ich je gemacht habe. Keiner Frau zuvor hatte ich mich so umfassend nahe gefühlt wie dann Marie. Das ist auch der Grund, weswegen all die Liebeleien und kürzeren Beziehungen, die ich vor ihr gehabt hatte, nicht der Rede wert sind. Nur Monika nehme ich aus. Sie war meine erste Liebe. Als wir uns trafen, wurden wir beide gerade sechzehn und machten einander besinnungslos – vor Glück. Zwei Jahre später hat sie mich verlassen, wegen eines anderen.
     
    Marie war an ihren Geburtstagen immer in einer ganz besonderen Stimmung: etwas traurig, etwas melancholisch, etwas glücklich. Und ich machte es mir zur Aufgabe, für sie jedes Jahr aus dem ersten Oktober einen wirklich großen Festtag zu gestalten. Und je mehr ich es schaffte, sie von der Traurigkeit und der Melancholie abzulenken, als desto gelungener empfand ich meine Aktivitäten. Einmal organisierte ich für sie ein

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