Der Tag an dem die Sonne verschwand
einmal überlegt, für eine gewisse Zeit in ein Schweigekloster zu gehen. Bin dann allerdings von dem Plan wieder abgekommen, da ich zu große Angst vor der Stille (in mir) hatte, vor dem Blick in die Unterwelt meiner Seele. Wie mag es Menschen ergangen sein, die früher als Eremiten ihr ganzes Leben irgendwo in den Bergen oder in der Wildnis zubrachten? Sogar ohne Bücher, ohne Papier und Schreibgerät, ganz auf sich allein gestellt.
Wer schweigt, kann sich nicht schönreden.
Meine Träume des Nachts sind nie gut. Oft brauche ich nach dem Erwachen lange, um die verschiedenen Realitäten zu unterscheiden und einzuordnen. Ich grüble dann darüber nach, was denn die tatsächliche Wirklichkeit ist: mein Leben hier im Eis, im Schnee, in der Finsternis; meine Vergangenheit; oder mein Traumleben – beispielsweise als siebenköpfiger Rabe, Eisenmensch oder Tsunami?
Der hinter mir liegende dreißigstündige Schlaf war mal wieder eine Odyssee durch bizarre Welten. Hin und her wurde ich geschleudert:
Das Herz war mir aus der Brust gefallen, ich hob es auf von staubigem Boden, nahm es in beide Hände und hielt es vor meinen Leib. Und viele Menschen, mittelalterlich gekleidet, kamen auf mich zu und sagten mit Häme im Chor: »Aber es schlägt ja gar nicht mehr, dein Herz steht still – warum trägst du es denn überhaupt noch in Händen? Wirf es fort! Ein totes Herz gehört nicht unter die Menschen!« »Aber es zuckt doch noch«, gab ich zur Antwort, »fast schlägt es ein wenig, geht weiter und kümmert euch um eure Herzen.« Alle fingen lauthals an zu lachen, machten ein paar Schritte zurück, entblößten ihre Oberkörper und ich sah in jedem Brustkorb ein faustgroßes Loch. Keiner von diesen Menschen hatte mehr ein Herz. »Siehst du«, sagten sie, »wir können fliegen – du mit deinem Herzen in der Hand kannst es nicht.« Und alle wandten sich von mir ab, hoben die Arme wie Flügel und flogen davon, in einen schneeweißen Himmel … Ich lernte von hinten und rückwärts sprechend die Bibel auswendig, mit Eifer und Furcht. Denn unvermittelt tauchte immer wieder eine sprechende Riesenratte auf, dreimal so groß wie ein Mensch. Sie kam aus dem Nichts, verlangte von mir, das Neuerlernte präzise aufzusagen – und verschwand wieder im Nichts. Kam ich ins Stocken oder gelang mir gar eine Passage überhaupt nicht, verschlang sie mich für Minuten. In ihrem dunklen Inneren, wo es nach Moor roch, meinte ich stets zu ersticken, ich schlug gegen ihre Magenwände – und in allerletzter Sekunde, so kam es mir vor, spie sie mich wieder aus und sagte deutlich akzentuiert: »Die Bibel ist das Leben, also lerne! Ich habe immer Hunger.« Dann urinierte sie noch kurz und löste sich wieder in Luft auf … An einem sehr warmen und klaren Maitag verlief ich mich in meiner Stadt. Ich hatte vergessen, in welcher Straße ich wohnte, wo mein Haus stand. Menschen saßen in Straßencafés und waren fröhlich. Je mehr ich herumrannte, desto verzweifelter wurde ich. Und je verzweifelter ich wurde, desto fremder erschien mir alles. War das wirklich meine Stadt? Als ich schließlich an einer Schule vorbeikam, atmete ich auf, denn ich erkannte sie wieder. Es war meine alte Schule. Aber dann traute ich meinen Augen nicht: Die Hauptpforte öffnete sich, ein paar Kinder stürzten auf den Bürgersteig, und vorneweg rannte ein kleiner Junge – und dieser Junge war ich selbst , als Kind. »Lorenz«, rief ich. Der Kleine blieb stehen, blickte mich mit stechenden Augen an und sagte: »Du hier? Hast du nichts Besseres zu tun? Wenn ich mal groß bin, schon am Tag meines achtzehnten Geburtstags, werde ich mich umbringen …«
Und kurz vor dem Aufwachen heute Morgen saß ich auf einem elektrischen Stuhl, in einem knallrot gestrichenen leeren Raum. Ich war festgeschnallt. Neben mir stand ein Polizist und las aus einem Aktenordner mit dem Aufdruck »Anklageschrift« vor. Aber ich konnte ihn nicht verstehen, er sprach in einer mir unbekannten Sprache. »Das stimmt doch alles nicht«, rief ich während seines monotonen Vortrages dazwischen. »Ich kann es beweisen! Meine wirkliche Schuld kennt niemand! Niemand!« Aber er ließ sich nicht beirren und las weiter vor. Dann schlug er plötzlich den Ordner zu, ging zu dem großen, an der Wand angebrachten Stromschalter, sagte zu mir in meiner Sprache: »Nun gibt es kein Zurück mehr, Schuld ist Schuld« – und legte den Schalter um. In diesem Moment wurde ich wach.
Ob der Nebel lange bleiben wird?
Warum
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