Der Tag an dem die Sonne verschwand
Wohnungen.
Es tut gut, zu sprechen.
12. EINTRAG
Marie hatte Geschichte und Germanistik studiert. Und ihre besondere Liebe galt dem italienischen Semiotik-Professor Umberto Eco. Sie verehrte ihn über alle Maßen, und schon zu Beginn ihres Studiums hegte sie den Plan, ihre Hochachtung vor dem romanschreibenden Gelehrten mit einer Promotion über sein großes Erstlingswerk Der Name der Rose zu krönen.
Allerdings blieb es lange bei einem bloßen Vorhaben, da sie nach erfolgreichem Examen keine Lust mehr hatte, wissenschaftlich zu arbeiten. Sie wollte ins Berufsleben und Geld verdienen – und verschob Umberto Eco auf später. Ungefähr ein Jahr bevor wir uns trafen, hatte sie schließlich mit den ersten Arbeiten an ihrer Dissertation begonnen. Aber es ging nur schleppend voran, da sie nicht ihre gesamte Freizeit für das Projekt opfern wollte. Dann trat ich in ihr Leben – und es blieb ihr noch weniger Freiraum zum Schreiben und Forschen. Dennoch tat sie es. Wenn auch selten, dafür kontinuierlich und diszipliniert. Nie verlor sie die Rose aus den Augen, und ungezählte Male diskutierten wir über inhaltliche Probleme, mit denen sie sich gerade herumschlug.
So ging es Jahre. Die Doktorarbeit wuchs Kapitel um Kapitel. Und obwohl mir durchaus klar war, wie viel Herzblut Marie in ihr Werk pumpte, und mit welchem Stolz sie dem Ende der Arbeiten entgegensah, war meine Anteilnahme daran doch gleich null. Wir unterhielten uns zwar oft über die Promotion, ich bemühte mich auch, im Rahmen meines Wissens, konstruktive Dinge zu sagen, aber ich ertappte mich doch allzu oft dabei, dass ich ihr gar nicht richtig zuhörte. Im Grunde interessierte mich diese akademische Pirouette nicht die Bohne.
Und dann kam der große Tag. Mein Julchen war zu einer Frau Doktor geworden. Sie platzte vor Stolz und Erleichterung und gestand mir, dass sie in den vergangenen Jahren immer wieder hatte hinschmeißen wollen und weit davon entfernt gewesen war, an einen erfolgreichen Abschluss ihrer Arbeiten zu glauben. Ihre Seligkeit hatte etwas sehr Anrührendes, weil sie sich ganz offenkundig mehr über ihre Selbstdisziplin freute als über den errungenen Titel. Ich gratulierte natürlich – aber ich empfand dabei eigentlich nicht mehr Respekt, als hätte sie alleine einen Ikea-Schrank aufgebaut. Entsprechend desinteressiert zeigte ich mich auch, als sie mir ein Exemplar ihrer Arbeit überreichen wollte. Ich weiß noch genau, was ich ihr damals antwortete: »Ach, lass mal stecken! Bei mir zu Hause liegen spannendere Bücher. Deine Umberto-Analyse werde ich lesen, wenn ich alt bin – dann spüre ich die Langeweile nicht mehr so sehr!«
Mein Gott! Und ich sagte diesen Satz auch noch mit einem süffisanten Lächeln und kam mir dabei besonders lässig und cool vor. »Ach, du bist ja gemein«, erwiderte sie leise – und ließ sich nur kurz merklich von ihrer Freude ablenken.
Dann sollte es ein großes Fest geben. Der Doktorhut musste gefeiert werden! Das war für Marie sonnenklar. Mit all ihren Freunden wollte sie auf das Erreichte anstoßen und einen rauschenden Abend verbringen. Und ebenfalls sonnenklar für sie war, dass ihr Liebster dabei sein würde. Natürlich! An meiner Seite wollte sie ihren Erfolg genießen und damit wohl unbewusst all den anderen zeigen, dass auch ich verdammt stolz auf sie war. Da ich mich schon lange von ihren Leuten ferngehalten hatte, sah Marie in der Feier sicher auch einen guten Anlass, unsere so enge Verbundenheit zu demonstrieren.
Fast vier Wochen ließ ich sie in dem festen Glauben, dass ich an der Doktor-Party teilnehmen würde. Fast vier Wochen gab es kaum ein anderes Thema zwischen uns: Wer wird eingeladen? Wo soll gefeiert werden? Kaltes Büfett oder warmes Büfett? Mit Live-Musik oder ohne? Und so weiter. Schon von Beginn der Planungen an war mir die ganze Sache lästig. Ich hatte einfach keine Lust auf den Trubel, zumal mir einige von Maries Leuten, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt hatte, ziemlich gegen den Strich gingen. Außerdem wollte ich unbedingt ein Zusammentreffen mit Maries Arbeitskollegin Alicia vermeiden, die selbstverständlich auch eingeladen war. Seit jener Weihnachtsnacht war ich ihr geschickt aus dem Weg gegangen, und daran sollte sich auch nichts ändern.
Die Party rückte bedrohlich näher, und ich hatte längst im Stillen entschieden, ihr fernzubleiben. Nur – was sollte ich Marie sagen? Ihr eine extravagante Ausrede präsentieren? Sie mit der Wahrheit konfrontieren? Oder
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