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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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er eine Scheibe eingeschlagen? Oder die komplett verschneite Haupteingangstür freigeschaufelt? Warum klangen seine Schritte so gewaltig?
    Mir liefen Schweißtropfen von der Stirn über das Gesicht. Und dann bemerkte ich, dass die Schritte ihre Richtung nicht zu verändern schienen. Weder kamen sie näher, noch entfernten sie sich. Trat er auf der Stelle? Aber warum? Sollte ich die Tür öffnen? Sollte ich ihm etwas zurufen? Oder war es vielleicht gar kein Mensch? Was konnte es sonst sein? Etwas Übernatürliches? Mein Ohr, die dazugehörige Gesichtshälfte und meine Schulter begannen zu schmerzen, so fest presste ich mich an die Tür. Meine Blicke rasten meinen Wohnungsflur auf und ab. Was sollte ich tun? Vielleicht waren die Geräusche der Beginn meiner Rettung? Oder mein endgültiges Verderben! Aber was hatte ich schon zu verlieren? Also entschied ich mich kurzerhand, die Tür zu öffnen. Ich griff zu einer an der Wand hängenden Taschenlampe, schloss die Tür auf und trat einen Schritt hinaus ins Treppenhaus. Genau in diesem Moment aber verstummten die Geräusche. Nichts war mehr von unten zu hören. Ich empfand so große Angst und Beklemmung, dass ich die Taschenlampe sofort ausknipste und ein paar Minuten starr im Hausflur stehen blieb. Erst dann gab ich mir einen Ruck, schaltete die Lampe wieder ein, ging zum Geländer, leuchtete in die Treppenschlucht und rief beherzt: »Ist da wer? Melden Sie sich! Es besteht keine Gefahr. Ich bin hier ganz oben … hallo!«
    Aber es kam keine Antwort – es blieb vollkommen still. Nun, da ich den ersten Schritt getan hatte, fielen mir die nächsten nicht mehr so schwer. Ohne zu zögern, ging ich rasch nach unten, Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk, lief durch jede Wohnung, leuchtete jeden Winkel aus – entdeckte jedoch nichts und niemanden. Darüber war ich einerseits sehr erleichtert – zugleich aber auch etwas enttäuscht. Dachte allerdings nicht eingehender darüber nach.
    Als ich schon wieder nach oben steigen wollte, fiel mir der Keller ein. Den musste ich nun auch noch inspizieren. Es blieb mir gar nichts anderes übrig. Ich schaute nach links: Die Zugangstür zum Kellergewölbe war geschlossen. Wie schon seit Monaten.
    Nach dem 17. Juli war ich nur einmal dort gewesen. Auch bei meinen alltäglichen Hausspaziergängen meide ich normalerweise das Tiefgeschoss. Wirklich begründen kann ich das nicht. Irgendwie flößen mir die Katakomben dort unten Furcht ein. Also lasse ich sie stets links liegen, zumal ohnehin nichts Besonderes in den Gängen und den einzelnen Verschlägen vorzufinden ist.
    Nun aber, ich stand frierend im Hausflur, musste ich nach unten. Daran führte kein Weg vorbei. Vielleicht war ja jemand dorthin geflüchtet. Ich leuchtete die Tür ab, überlegte einen Moment und öffnete sie schnell. Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rannte los: ein paar Stufen hinunter, dann rechts in den Gang, schleuderte meinen Lampenstrahl hastig in jede Ecke, bückte mich, leuchtete unter die einzelnen Holzverschläge und sprang schnell zurück zu den Kellerstufen, um dann den linken Gang und die dort befindlichen Schuppen zu prüfen. Aber nichts! Niemand war dort. Kein Mensch. Kein Geist. Kein Tier. Kein Garnichts.
    Ich machte mich wieder auf den Rückweg nach oben. Schloss die Kellertür hinter mir – und stieg langsam, nun wesentlich ruhiger geworden, die Stufen hinauf zu meiner Wohnung.
    Und hier sitze ich nun, trinke Tee, rauche.
    Ich muss sprechen! Ja, ich muss! Das ewige Schweigen treibt mich zusehends weg von mir selbst.
    Ich bin nicht stark genug, meinem Schweigen standzuhalten.
     
    Einige Minuten später.
    Ich habe eine Idee. In meinem Schlafzimmer hängt eine etwa fünfzig Zentimeter lange und zwanzig Zentimeter breite tibetanische Holzmaske mit unfreundlichen Gesichtszügen; sie gleicht eigentlich eher einer Fratze. Vor vielen Jahren habe ich sie auf einer Tibet-Reise erstanden. Ich will sie hierher in mein Wohnzimmer holen und gut sichtbar an der Wand anbringen – und dann soll sie mein Gesprächspartner beziehungsweise mein Zuhörer sein. Ja, das werde ich tun. Jetzt sofort. Und ich will ihr einen Namen geben. Thor vielleicht? Oder Melchior? Urd oder Balder?
    Nein! Die Maske wird Igor heißen. Igor!
     
    Jetzt hängt Igor im Wohnzimmer neben dem Fenster, und ich habe ihm gerade schon ein wenig erzählt, von meinem Leben hier, dem Vorkommnis im Treppenhaus vorhin und von meinen Vorräten in den anderen

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