Der Tag an dem die Sonne verschwand
und nur sehr langsam ging es voran. Ich zwinkerte Marie durch die Glasscheibe zu und streckte ihr einige Male die Zunge raus. Das machten wir oft, so aus Spaß, und es war immer als kleine Liebkosung gemeint. Als ich Marie endlich in die Arme schloss, war es ungefähr dreizehn Uhr. Sie roch wunderbar frisch und hatte zur Feier des Tages eine doppelte Dosis ihres Parfüms aufgetragen. Das machte sie immer, wenn sie sich besonders auf mich freute. Denn sie wusste, wie gerne ich den Geruch mochte, wie verrückt ich geradezu danach war.
Übrigens habe ich mir einmal, direkt nach ihrem Tod, genau dieses Parfüm gekauft. Als ich die Schachtel damals öffnete und ansetzte, den Sprayknopf zu drücken, blieb mir vor Aufregung und Angst beinahe das Herz stehen. Und dann tat ich es: Ich sprühte mir etwas von dem Parfüm auf den Arm – und mir wurde schwarz vor Augen, ich atmete hektisch den Duft ein, immer und immer wieder, und hunderttausend Marie-Bilder jagten durch mein Gehirn. Alles war so schmerzlich irreal. Ich hatte das Gefühl, sie sei bei mir und mein Arm sei ihr Arm. Ich streichelte ihn, ich küsste meinen eigenen Arm … und so ging das eine ganze Weile … und endete schließlich mit heftigem Weinen und Schluchzen … wie lange, weiß ich nicht mehr … bis ich dann ins Bad ging und den Arm unter heißem Wasser mit Kernseife und Handbürste reinigte. Ich schrubbte ihn so eingehend, dass er sich feuerrot verfärbte. Danach entsorgte ich das Parfüm im Müllcontainer. Begegnete mir später eine Frau mit dem gleichen Parfüm, riss es mich immer in die Tiefe, immer.
Zurück zu unserem letzten Nachmittag. Da standen wir also eng umschlungen auf dem Bahnsteig und warmer Wind wehte über die Gleise. »Was wollen wir machen?«, fragte Marie. »Keine Ahnung, vielleicht in den nächsten Zug steigen und ans Mittelmeer fahren?« »Ja, das wäre eine Gaudi – und heute Abend wieder zurück. Aber im Ernst, Wasser wäre nicht übel. Wollen wir zum See wandern und schwimmen gehen?«
So richtig begeistert war ich von dem Vorschlag nicht, da ich den See am Rande von Maries Stadt nicht sonderlich mochte, und er vermutlich wegen des vortrefflichen Wetters fürchterlich überfüllt sein würde. Aber ich hatte keinen guten Gegenvorschlag – und so holten wir in ihrer Wohnung die Badeutensilien und machten uns auf den Weg. Er führte durch ein kleines Wäldchen und dann über eine wilde Wiese, die nur so strotzte vor bunten Blüten und grellgrünem Gras. Am Horizont, in blauer Ferne, trieb der Südwind vereinzelte Wolkenformationen vor sich her. Wir waren in gelöster, freudiger Stimmung, und als wir das Wäldchen verließen und die Wiese betraten, begann Marie zu singen:
»Die Gedanken sind frei,
Wer kann sie erraten,
Sie fliehen vorbei
Wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
Kein Jäger erschießen
Mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei …«
Wir hatten in den letzten Jahren unseres Zusammenseins das Volkslied für uns entdeckt und zunehmend Gefallen daran gefunden. Früher wäre das für mich undenkbar gewesen, stand das Volkslied meines Erachtens doch auf derselben Stufe wie die dumpfe, volkstümelnde Musik, mit der man mich hätte jagen können. Aber im Laufe der Zeit lernte ich durchaus zu unterscheiden, und zusammen mit Marie erkannte ich die Schönheit der alten Weisen. Wir studierten sie regelrecht ein. Marie hatte aus ihrer Buchhandlung zwei kleine Liederfibeln besorgt, und ich war in einem Musikgeschäft auf eine dazugehörige CD gestoßen, besungen von berühmten Männerchören. So kam es, dass wir auf vielen Wanderungen und Spaziergängen die verschiedensten Volkslieder schmetterten.
Das war ein Spaß. Und das war ein Glück …
Nach der ersten Strophe, die Marie alleine zum Besten gegeben hatte, stimmte ich mit ein, und wir sangen zusammen:
»Ich denke, was ich will,
Und was mich beglücket,
Doch alles in der Still,
Und wie es sich schicket.
Mein Wunsch, mein Begehren,
Kann niemand verwehren,
Es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.«
Um den See herum tummelten sich wirklich Massen von Menschen, und wir hatten Mühe, noch ein freies Plätzchen zu finden. Deshalb sank meine Laune rapide. Wir breiteten unsere Handtücher aus. Im Nacken saß uns eine lärmende türkische Familie, links und rechts tollten Pubertierende, und vor uns lagen zwei überaus fette Frauen in Bikinis, beide weit über fünfzig, denen der Schweiß aus allen Poren quoll. Marie machte das alles
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