Der Tag an dem die Sonne verschwand
mit dem Text: »Ich will keinen Anruf von dir, auch keinen Besuch.« Mir lief es eiskalt über den Rücken. Ich wusste, was das bedeutete. Marie verhielt sich immer zurückhaltend und nur ausgesprochen selten aggressiv. Diese Reaktion und ihre Worte zeigten mir, wie ernst es war, wie sehr ich sie verletzt hatte. Ich fuhr nicht zu ihr, und ich rief sie auch nicht an. Aber eine SMS schickte ich: »Bitte verzeih mir. Ich möchte dich nicht verlieren. Das Leben mit dir ist das schönste Leben der Welt.« Ich hörte achtzehn Tage nichts von ihr. Und wurde beinahe wahnsinnig. Ich wollte sie nicht bedrängen, wollte ihre Wünsche respektieren, wusste aber überhaupt nicht, was ich tun sollte. Ich saß in der Falle und musste ganz einfach abwarten. Dann kam der erlösende Anruf. Ich sah ihre Nummer auf meinem Display, ließ es ein paarmal klingeln und nahm schließlich mit zitternder Hand den Hörer ab. »Hallo, Marie …«
Und sinngemäß sagte sie zu mir: »Nie wieder darf so etwas passieren, nie wieder darf es Heimlichkeiten zwischen uns geben! Nur wenn du mir das versprichst, kann ich weiter mit dir leben – und dann will ich es auch wirklich, von ganzem Herzen.«
Mir blieb der Atem weg, und ich flüsterte nur in den Hörer: »Ich verspreche es dir.«
Nach diesem Vorfall habe ich Marie nie mehr betrogen. Kein einziges Mal. Und es fiel mir nicht einmal schwer. Ich musste mich nicht dazu zwingen. Aber die Zeit, die Marie und mir noch blieb, war knapp bemessen. Zu ihrem nächsten Geburtstag, den sie nicht mehr erlebte, wollte ich ihr eine Bescheinigung meines Chirurgen schenken, dass die Sterilisation rückgängig gemacht worden war.
10. EINTRAG
Habe heute zum ersten Mal Bettwäsche gewaschen. Alles von Hand natürlich. Wie auch sonst? Sehr mühsam. Hatte nichts Sauberes mehr. Erst in den letzten Tagen ist mir in den Sinn gekommen, dass ich mir ja eigentlich einen Vorrat an Laken und Bezügen hätte beschaffen können, zusammengesucht aus verschiedenen Geschäften. Daran aber hatte ich vor Wochen nicht gedacht. Nun muss ich mit dem auskommen, was ich besitze. Aus den anderen Wohnungen hier im Haus möchte ich mir nichts nehmen. Das Waschen war eine umständliche Prozedur: Wasser auf dem Kohleofen erhitzen (in großen Töpfen), Wasser ins Badezimmer schleppen und in die Wanne schütten, Waschpulver dazu geben, Wäsche hineinschmeißen, dann das Ganze mit den Händen immer und immer wieder durchkneten, anschließend unter der kalten Brause spülen und auswringen. Jetzt hängen die nassen Wäschestücke zum Trocknen verteilt in meinem Wohnzimmer und haben die Fensterscheiben beschlagen lassen. Meine kleineren Wäschestücke, wie zum Beispiel Socken, T-Shirts und Unterhosen, werfe ich immer direkt in einen auf dem Ofen stehenden und mit Wasser gefüllten Kochtopf, lasse das Ganze dann ein paar Stunden gut durchziehen, spüle anschließend alles unter fließendem Wasser aus – und habe so wieder saubere Sachen. Man wird halt erfinderisch.
Welch ein Glück übrigens, dass ich vor Jahren meinen Kohleofen nicht entsorgt habe. Einmal war ich kurz davor. Ohne ihn könnte ich jetzt hier nicht leben. Er ist das Herz meiner Wohnung. Er gibt Wärme, ich koche auf ihm, und er erhitzt mir das Wasser.
11. EINTRAG
Draußen: unverändert dichter Nebel. Seit zehn Tagen, und mittlerweile ist er vollkommen regungslos. Nur die ersten beiden Tage nach seinem Aufzug waberte er vor meinen Scheiben. Das ist jetzt vorbei. Temperatur: konstant.
Ich habe Angst, den Verstand zu verlieren, habe Angst vor Halluzinationen. Heute ist es besonders schlimm. Vorhin war mir, als hätte ich im Treppenhaus Schritte gehört!
Schritte? Im Haus? Meine Pulsfrequenz verdoppelte sich daraufhin blitzartig, und ich schlich auf Zehenspitzen zu meiner abgeschlossenen Wohnungstür, legte ein Ohr an das Holz.
Es herrschte zunächst Stille, nur mein Ofen knackte und knisterte im Wohnzimmer. Aber dann, nach einigen Sekunden des Horchens, war es wieder da, jenes Geräusch, welches ich zuvor gehört zu haben glaubte. Und tatsächlich, es klang nach Schritten! Als würde ein kräftiger Mensch entschlossen auf die Holzstufen in den unteren Stockwerken treten. Mein Herz trommelte, und meine Gedanken überschlugen sich. Kam er nach oben? Ein Mensch? Ein Überlebender? Hier? Wie hatte er mich gefunden? Mitten im Nebel! Warum rief er nicht nach mir? Warum freute ich mich nicht? Kam er in guter Absicht? Oder wollte er mich töten? Wie war er ins Haus gelangt? Hatte
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