Der Tag an dem die Sonne verschwand
verlaufen, mich in dem eisigen Dunst zu verlieren. Und nichts habe ich entdeckt. Der Lärm ist überall – und überall gleich. Nirgendwo stärker, nirgendwo schwächer. Und es gibt nicht den geringsten Hinweis, woher er kommt, was ihn verursacht. Keine Spuren, kein Licht, keine Gerüche. Nur gleichbleibendes Getöse, in jeder Straße, vor jedem Haus, auf jedem Platz. So könnte man Menschen foltern – zu Tode foltern. Welch eine Erleichterung, wieder hier im Haus zu sein, in meiner Wohnung! Zwar höre ich die Hölle dort draußen immer noch, aber wesentlich abgeschwächter.
Während meines Rückwegs vorhin – ich quälte mich mühsam durch den Schnee, nur den trüben Lichtstrahl meiner Taschenlampe vor Augen und in jeder Gehirnwindung den geheimnisvollen Lärm spürend -, da war mir plötzlich, als würde mein Ich auseinanderfallen, in Tausende und Abertausende von Fragmenten. Und nichts konnte ich dagegen tun. Erst nachdem ich das rettende Eingangsfenster meines Hauses erreicht hatte und mich in der dazugehörigen Wohnung unten im ersten Stock befand, gelangen mir wieder klare Gedanken.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß es nicht. Eigentlich müsste ich etwas essen. Ja, ich will mich dazu zwingen. Jetzt. Und dann werde ich meine Ohren mit Wachs verschließen – und versuchen zu schlafen.
14. EINTRAG
Nichts verändert sich. Lärm, Nebel, Dunkelheit, Kälte. Nun schon seit einer Woche. Seit einer Woche.
Ich schleppe mich herum. Ich verkomme. Habe keine Kraft zu schreiben. Bleiern meine Gedanken. Nur Igor gibt mir noch etwas Halt. Ich erzähle ihm von früher, aus meiner Kindheit.
Er hört mir zu.
Das Wasser fließt nicht mehr.
15. EINTRAG
Julchen!
16. EINTRAG
… ich vegetiere …
… kein Wort mehr zu Igor …
17. EINTRAG
… ich kann nicht mehr …
18. EINTRAG
Ich fasse es nicht! Meine Hände zittern. Mein Gott, welch ein Glück! Mein Gott, welch eine Gnade! Ich hätte es nicht mehr lange ausgehalten!
Der Lärm ist verschwunden!
Er ist weg! Einfach weg! Ja, es ist wieder still! Absolut still. So, wie ich es kenne. Es ist keine Totenstille, es ist eine heilige Stille.
Schlag fünfzehn Uhr vorhin, heute am 25. Oktober, verstummte das Getöse von einer Sekunde auf die andere. Vollkommen. Ich kann es noch gar nicht glauben, habe trotz Kälte und Nebel alle meine Fenster geöffnet, um die Ruhe zu genießen, um mir zu beweisen, dass dort draußen wirklich kein Lärm mehr herrscht.
Es gibt also doch noch positive Veränderungen. Das habe ich nicht mehr für möglich gehalten. Ich will dafür dankbar sein. Ich weiß nicht, wem, aber ich will dankbar sein.
19. EINTRAG
26. Oktober. Ich habe gut geschlafen. Hatte allerdings Angst, dass über Nacht der Lärm zurückkommen könnte. Umso größer war das Glücksgefühl heute Morgen, als ich nichts hörte.
Ich versuche nun wieder meinen normalen Tagesrhythmus zu leben. Vielleicht gibt es bald noch andere Veränderungen. Der Lärm ist verschwunden. Vielleicht geschieht mit dem Nebel dasselbe. Vielleicht wird es sogar wärmer – und heller. Wer weiß.
Ich bin stolz, dass ich an dem Lärm nicht zerbrochen bin. Daraus schöpfe ich Kraft. Die Kraft, weiter hier auszuharren.
Ich werde jetzt nach unten gehen und Schnee holen. Und zwar eine ganze Menge. Ich brauche Wasser. Ich möchte ein Bad nehmen. Es wird sicher mühsam sein, so viel Wasser auf meinem Ofen zu erhitzen. Aber egal! Ich habe so lange nicht mehr gebadet.
20. EINTRAG
Meine letzten Stunden mit Marie: Es war ein brennend heißer Julitag. Die Sonne stand so mächtig und klar am Himmel, als würde sie nie mehr untergehen wollen. Wir hatten beide frei, und gegen Mittag fuhr ich zu ihr in ihre Stadt. Wie immer, wenn ich mit dem Zug anreiste, holte sie mich am Bahnhof ab. Das war ein sehr schönes Ritual. Ich sehe sie noch genau vor mir, wie sie an jenem Tag auf dem Bahnsteig stand, mit erwartungsvollem Blick und in einem knallgelben engen Sommerkleid und ebenso knallgelben Stoffschuhen. Während der Zug einlief, hatte ich mich bereits in den Gang begeben, um sie so rasch wie möglich auf dem Bahnsteig zu erspähen. Und tatsächlich trafen sich unsere Blicke dann sehr schnell. Sie strahlte, ich strahlte, im Schritttempo fuhr der ICE ein, und Marie spazierte nebenher, genau auf meiner Höhe, nur die Glasscheibe trennte uns noch. Dann kam der Zug zum Stehen. Vor mir im Gang hatte sich eine kleine Menschenschlange gebildet, alle wollten aussteigen,
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