Der Tag an dem die Sonne verschwand
verdrängte die Beklommenheit. Ich schloss die Tür des Zimmers, in dem es, ebenso wie im übrigen Haus, eisig kalt war, setzte mich auf die in einer Ecke stehende Couch, aß und trank etwas im Taschenlampenlicht, schlief aber dabei fast schon ein. Im Halbbewusstsein zerrte ich meinen Schlafsack aus dem Gepäck, warf ihn auf die Couch, kroch hinein, legte noch eine Wolldecke über mich, die ich zuvor auf einem Sessel neben mir entdeckt hatte, verschnürte den Schlafsack fest von innen – und schlief sofort. Wie mir schien, endlos lange.
Am nächsten »Morgen« erschrak ich zunächst. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich war. Ich suchte wie ein Verrückter nach meiner Taschenlampe, und erst als ich sie gefunden und eingeschaltet hatte, verstand ich allmählich. Schon wenige Minuten später verließ ich das Haus.
Der vierte Tag meines Marsches wurde ausgesprochen hart, da ich während der gesamten Wegstrecke weder an Häusern vorbeikam noch im Schutz von Bäumen gehen konnte. Ich quälte mich über einstige Wiesen und Felder, hatte dabei immer große Sorge, mich zu verlaufen. Unablässig stierte ich in alle Richtungen und war schließlich grandios erleichtert, als ich inmitten der dunkelweißen Ödnis ein großes Straßenschild aus dem Schnee ragen sah, das meine Marschrichtung bestätigte. Ich bin überzeugt, allein die Besessenheit, Maries Grab zu erreichen, machte mich gegen die unaussprechliche Trostlosigkeit der Umgebung immun. Ich wäre sonst wahrscheinlich schon an diesem vierten Tag wahnsinnig geworden: das endlose Leichentuch aus Schnee unter mir, die bleiernen, mich fast erdrückenden Wolken über mir, die absolut stumme Welt um mich herum. Nur meine Schritte und das dadurch verursachte Knirschen verliehen meiner Lebenslage noch etwas Irdisches. Nachdem ich das Straßenschild zwei- und dreimal gelesen hatte, beschloss ich genau dort zu übernachten. Ich schaufelte ein tiefes Loch in den Schnee, legte meine Isoliermatte hinein, dann mein Gepäck und schließlich mich selbst – geschützt diesmal von zwei Schlafsäcken.
Ich fror nicht und schlief gut. Wobei mich das Erwachen, wie schon tags zuvor, in Angst und Schrecken versetzte. Was war los? Lag ich in einem offenen Grab? Weit über mir schien ein wolkiger Nachthimmel zu sein, das konnte ich aus meiner Grube heraus sehen. Oder träumte ich noch? Erst als ich meinen Oberkörper von den Schlafsäcken befreit hatte, und ich in die mich umgebenden kalten, weichen »Wände« griff, wurde mir meine Situation klar, und der Herzschlag normalisierte sich wieder. Ich frühstückte in dem Schneeloch und zog dann weiter.
Stundenlang ging es über schier endlos erscheinende Schneefelder. Wenig war zu sehen. Ab und zu ein Baum, nie Häuser und auch kein Straßenschild mehr. Was erneut die Angst in mir nährte, mich eventuell zu verirren. Irgendwann aber tauchte vor mir eine dunkle Silhouette auf. Ich meinte, ein Gehöft mit Nebengebäuden und einen riesigen Baum zu erkennen. Und tatsächlich, je näher ich kam, desto mehr bestätigte sich meine Vermutung. Es war ein Bauernhof, der offenbar am Rand eines kleinen Dorfes stand, da ich in nicht allzu weiter Entfernung weitere Häuser ausmachen konnte. Ich war froh. Für die bevorstehende Nacht hatte ich also eine Unterkunft gefunden. Ein Haus war nun doch besser als ein Schneeloch.
Da ich mich schon sehr müde und erschöpft fühlte, entschied ich, das Gehöft direkt anzusteuern und nicht noch weiter bis zu den anderen Häusern zu gehen. In welches Gebäude aber sollte ich eindringen? In den Stall? In die Scheune? Oder in das Wohnhaus? Eigentlich saß mir noch das Grauen der vorletzten Nacht im Leibe. Wie unwohl war mir in den ehemals von Menschen bewohnten Räumen gewesen! Und plötzlich hatte ich den großen braunen Teddybären wieder vor Augen, seinen wehmütigen Blick und wie er die steinharte Scheibe Brot in seinen Tatzen hielt. Alle hatten sterben dürfen – nur er nicht. Tiefgefroren musste er wohl das endgültige Ende der Welt abwarten.
Nein, in ein Menschenhaus wollte ich nicht noch einmal gehen!
Also näherte ich mich einem der Nebengebäude, das ich für die Scheune hielt. Keine Fenster waren zu sehen, nur eine recht große Öffnung ganz oben unter dem Giebel. Was mir die Sache sehr erleichterte. Ich brauchte nichts freizuschaufeln, sondern konnte an einigen aus der Fassade ragenden Holzbalken direkt nach oben klettern und einsteigen. Und wirklich: Ich befand mich in einer alten Scheune, auf dem oberen
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