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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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stehen wir auf, Finn macht immer das Frühstück, ich kümmere mich um den Ofen, gegen zwölf beginnen wir ein Mittagessen vorzubereiten, am frühen Nachmittag beschäftigen wir uns mit Hausarbeit (putzen, aufräumen, waschen, abwaschen und so weiter), um neunzehn Uhr gibt es Abendbrot. Ansonsten lesen wir, machen Spiele. Und reden. Ausgiebig und immer wieder über unsere Lage.
    Wie lange werden wir es aushalten? Überhaupt: Was sollen wir tun? Auf Veränderungen hier in der Wohnung warten? Hinausgehen? Bloß, wohin?
    Wie lange werden wir uns verstehen? (Wobei wir diese Frage nur einmal und sehr kurz behandelt haben, weil es schlichtweg nichts bringt, darüber zu sprechen.)
    Und: Was ist am 17. Juli des vergangenen Jahres nur geschehen?
    Zwar glauben wir beide an ein kosmisches Großereignis, das wir weder erklären noch verstehen können – und über das wir eigentlich nicht einmal mutmaßen dürfen, da unser Wissen keinerlei Anhaltspunkte anzubieten hat. Dennoch, wohl aus Verzweiflung, spekulieren wir und stochern mit unseren Fragen im Nebel. Das Ereignis an sich ist schon mysteriös genug, unser Überleben aber macht es noch geheimnisvoller. Warum existieren gerade wir? Was hat uns vor dem Inferno geschützt? Ist unsere Welt in eine andere Dimension gestürzt? Befinden wir uns vielleicht gar nicht mehr auf der Erde, sondern sind, ohne es zu merken, in eine Scheinwelt geschleudert worden? Haben Außerirdische mit unserem Planeten ein Experiment durchgeführt? Oder sind es Vorgänge aus der fernen Zukunft, die in unsere Gegenwart zurückwirken? Vielleicht wird es irgendwann Rechner, Maschinen, Computerprogramme geben, die mit der Vergangenheit machen können, was sie wollen. Was würde wohl Einstein in unserer Situation denken; wie würde er all das, was geschehen ist, bewerten?
    Manchmal lachen wir sogar über unsere Lage. Vor Wochen, vor Monaten, als ich alleine war, hätte ich mein Schicksal niemals mit Humor betrachten können.
     
    Finn und ich haben vorhin Überschriften-Wettentwerfen gespielt. Was könnte über einem Artikel stehen, der die momentane Welt beschreibt? Hier eine Auswahl unserer Ideen:
     
    »Sonnenbrand, adieu«
     
    »Gefriertruhen auf den Müll!«
     
    »Endlich keine Nachbarn mehr!«
     
    »Immer Freizeit! Nie mehr Staus!«
    »Eröffnen Sie Ihr eigenes Geschäft! Sie sind garantiert konkurrenzlos!«
     
    »Und es geht doch: Eine Gesellschaft ohne Politiker«
     
    »Die steuerfreie Zone«
     
    »Ladenschlusszeiten endgültig gefallen«
     
    »Benzinpreise eingefroren!«
     
    »Immer weiße Weihnacht!«
     
    Finn liest am liebsten Sachbücher. Gerade beschäftigt er sich mit den Azteken. Ich hingegen genieße zurzeit die Erzählungen von Oscar Wilde. Und immer, wenn wir interessante Stellen in unseren Büchern entdecken, lesen wir sie einander vor. So vertreibt man sich gut die Zeit.
     
    Gestern ist etwas geschehen, was mich sehr irritiert. Wir saßen beide auf der Couch und Finn las vor. Er sprach leise und konzentriert, die Beine übereinandergeschlagen, das Gesicht nahe am Buch, er war ganz vertieft in seinen Text. Uns trennten vielleicht vierzig Zentimeter. Ich saß ihm zugewandt und hatte mein rechtes Bein angewinkelt auf das Sofa gelegt. Ich betrachtete ihn von der Seite – wie er seine Lippen bewegte, wie er das Buch hielt, schaute mir sein Profil an, seine Hände und das konfus kurzgeschnittene Haar. Und plötzlich achtete ich gar nicht mehr auf den Text, den er vortrug, hörte ihm nicht mehr zu, sondern lehnte mich an den Kissenberg hinter mir, atmete tief und ruhig, schaute auf seine Wangen und Schultern, nahm den monotonen Rhythmus seiner Stimme wahr – und empfand für wenige Sekunden fast so etwas wie Glück! (Es widerstrebt mir, von »Glück« zu sprechen, aber ich kann das Gefühl nicht anders benennen.) Unglaublich. Seit Maries Tod hatte ich so etwas nicht mehr erlebt. Es war ähnlich wie damals, als ich mit ihr in Österreich auf einer Bank saß, unter uns ein lauschiges Tal, vor uns ein Dreitausender – und sie dann irgendwann sagte: »Wie gut es uns doch geht!«
    Erst als sich Finn mit den Worten zu mir herumdrehte: »Genau das hätte ich nicht erwartet. Es ergibt auch keinen Sinn. Was denkst du?«, erwachte ich aus meiner Trance, war kurz verwirrt und bat ihn die letzten Sätze noch einmal vorzulesen. Er hat von meiner kurzen Empfindung nichts bemerkt, es wäre mir auch peinlich gewesen.
    Wie ist es möglich, dass ein derartiges Gefühl in mir entsteht? Hier, inmitten

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