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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Plastik-Entenkopf ragte. Die Ente schien zu lächeln.
    »Sollen wir mal ein paar Schritte wagen?«, fragte Finn.
    »Warum nicht?«, erwiderte ich – und schon schlitterten wir auf dem glatten Eis umher, ein jeder mit seiner Taschenlampe in der Hand. Das ging eine ganze Weile so und machte uns Spaß. (Wann kann man schon in einer öffentlichen Badeanstalt Schlittschuh laufen – oder zumindest so was Ähnliches?) Plötzlich jedoch warf sich Finn auf die Knie, fuchtelte aufgeregt mit der Taschenlampe und brüllte, obwohl ich nur ein paar Meter von ihm entfernt stand: »Komm her! Komm her! Hier ist ein Mensch!« Ich machte ein paar große, rutschende Schritte zu ihm hin, hockte mich neben ihn, und wir richteten beide unsere Lampen in das Eis.
    Und tatsächlich – direkt unter der Oberfläche schien ein Kind zu schweben, mit weitaufgerissenen Augen, zusammengepresstem Mund, die Hände zu Fäustchen geballt. Es hatte alle viere von sich gestreckt, trug eine gelbe Badehose und war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Finn beugte sich vor und trommelte auf das Eis. Ich zog ihn zurück. »Es ist tot, es ist tot!«, schrie er. Wie ein in Bernstein eingeschlossenes Insekt sah es aus, das tote Kind. Mir stockte der Atem. Es war im Becken eingefroren.
    Wir knieten nur kurz über dem Kind, dann rannten wir voller Entsetzen von der Eisfläche, weil wir den Eindruck hatten, es würde uns um Hilfe flehend anstarren. Wahrscheinlich war es unmittelbar vor der Katastrophe ertrunken. Das Mysterium interessierte sich nicht für die Toten.
    Eilig entfernten wir uns aus der Badeanstalt.
     
    Wir machten unsere Besorgungen, fanden auch alles, was wir haben wollten. Obwohl uns nach dem Erlebnis in der Badeanstalt nicht gerade der Sinn nach Kaviar und Champagner stand. Aber die Köstlichkeiten sollten ja für später sein. Und da Finn nun ebenfalls im Besitz von Tiefschneeschuhen war, kamen wir zügiger voran als vorher. Und doch machte uns das Gehen recht große Mühe, denn in einigen Straßenschluchten türmten sich riesige Schneewehen auf.
    Gegen Ende unseres Ausfluges, wir hatten bereits wieder mein Stadtviertel erreicht, betraten wir noch die Lobby eines großen Hotels, einfach so, um uns umzuschauen – und bei der Gelegenheit ein wenig auszuruhen. Prunkvoll sah es dort aus. Eine riesige Halle war es, mit Kristallkronleuchtern, roter Samttapete, Marmorfußboden, vielen Antiquitäten, feinem Mobiliar und Perserteppichen. Neben der großzügig angelegten Rezeption aus edlem Holz führte eine einladend geschwungene Marmortreppe mit goldenem Handlauf in den ersten Stock des Hauses. Wir ließen uns in große Sessel fallen und kreisten mit unserem Taschenlampenlicht durch den pompösen Raum.
    »Warst du früher schon mal in so einem Hotel?«, fragte Finn.
    »Ja, oft – mit Marie.«
    »Und, gefällt dir so was?«
    »Damals, ja«, sagte ich – und für einen Moment riss mich die Vergangenheit wieder in ihre Tiefen.
    Ich war mit Marie in unzähligen Hotels gewesen. In Absteigen, in hübschen Mittelklassehäusern und immer wieder auch in den besten und teuersten. Wir hatten beide denselben Geschmack, und waren wir in einem Nobelschuppen irgendwo auf der Welt untergekommen, machten wir uns immer einen Spaß daraus, alles aufs Genaueste zu inspizieren. Wir führten Debatten über architektonische Einzelheiten, überlegten, ob der Speisesaal wirklich stilecht eingerichtet war, ob das Badezimmer den sehr gehobenen Ansprüchen gerecht wurde, welche Qualität das auf dem Zimmer zur Begrüßung bereitgestellte Obst hatte, ob der Service auch zur Nachtzeit so gut war wie tagsüber, ob die Aussicht stimmte, das sündhaft teure Zimmer auch wirklich sauber war, die Einrichtung allen Bedürfnissen entsprach, und so weiter und so weiter.
    Unsere schönsten Reisetage allerdings verbrachten wir in einfachen Unterkünften, in Pensionen, kleinen Apartments oder schlichten Chalets. Ich erinnerte mich an ein Abendessen mit ihr auf dem winzigen Balkon eines Pensionszimmers. Wir waren irgendwo in Kalifornien und schauten hinaus auf den Pazifik, der sich wie müde vom Tag vor uns räkelte, und dann setzte die untergehende Sonne den Horizont in Brand, gewaltiges Rot und Orange vermischten sich und überspannten den fernen Himmel. Wir konnten gar nicht wegschauen, so berührend war das Schauspiel. Irgendwann erstarb die feuergleißende Sonne im großen Meer, und wir waren sprachlos, tranken stumm unseren Wein und wussten, dass jeder die Erhabenheit dieses

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