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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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Behandlung auf der Intensivstation.
    Im Anschluss an den Klinikaufenthalt war er zwei Monate in der geschlossenen Psychiatrie und dann zwei weitere Monate in einem Rehazentrum. Seit dem Zusammenbruch auf dem Bahnhofsklo hat er keine Drogen mehr angerührt, dafür aber sein Leben wieder in die Hand genommen.
    »Nie mehr Schnee! Das hatte ich mir damals geschworen«, sagte Finn am Ende seiner Erzählung, dabei ging er zum Fenster und blickte hinaus. »Und was ist nun? Mittendrin sitze ich im Schnee! Schnee, wohin ich auch gucke …«
    Wir lachten – und ich sagte: »Komm, lass uns zu Abend essen!«

35. EINTRAG
    Sechs Stunden waren wir gestern draußen.
     
    Ohne Finn wäre ich nicht hinausgegangen. (Wobei dieser Satz unsinnig ist, da ich ohne Finn gar nicht mehr leben würde; entweder wäre ich auf dem Weg zu Maries Friedhof umgekommen, oder aber ich hätte mein Ziel erreicht und läge jetzt steinhart gefroren auf ihrem Grab.)
    Wir hatten gestern das Haus gerade verlassen und standen wort- und regungslos mitten auf der Straße, da sagte Finn: »Wie sonderbar! Als gäbe es hier draußen keine Zeit. So stark habe ich das noch nie empfunden, auch nicht während unserer Wanderung hierher. Alles steht still. Nichts verändert sich. Ist es möglich, dass nur noch wir der Zeit ausgesetzt sind – die Welt aber nicht mehr?«
    Völlig überrascht drehte ich meinen Kopf zu ihm hin, weil genau dieselbe Empfindung auch ich in diesem Moment hatte und sie gerade ausdrücken wollte. Nur, er war mir zuvorgekommen.
    Ich legte meinen Arm um seine Schultern, sagte: »Vielleicht!« – und fühlte mich ihm sehr nahe.
    Ich glaube, meine fast schon zärtliche Geste irritierte ihn etwas, da sie in keinem für ihn ersichtlichen Zusammenhang mit seiner Frage stand.
     
    Dann wateten wir mühevoll durch den Schnee. In Richtung Stadtmitte.
    Wir strichen zunächst durch ein Kaufhaus. Die Lichtkegel unserer Taschenlampen ließen die Größe der Verkaufsebenen erahnen. Bitterkalt war es. Im Laufe der Monate hatte sich der Frost überall eingenistet. Wir gingen durch die Abteilung für Damenbekleidung und bemerkten, dass fast alle Röcke, Kleider, Blusen und so weiter wie Bretter an den Bügeln hingen. Sie waren gefroren. Als wir an die Decke leuchteten, entdeckten wir lange Eiszapfen und einige Wände und Säulen schienen regelrecht vereist. Vermutlich war nach dem Unglück, vielleicht durch irgendeine Fehlschaltung, die Sprinkleranlage ausgelöst worden, hatte eine Weile das ganze Stockwerk besprüht und sich dann wieder von selbst ausgeschaltet. Auch auf dem Boden unter den Kleiderständern entdeckten wir größere Eisflächen. Das Kaufhaus wirkte sehr gespenstisch. Weil es so groß und unübersichtlich war. Immer wieder leuchtete ich mit meiner Taschenlampe hinter mich, was mir eine gewisse Sicherheit gab. Ich hatte ständig das Gefühl (und Finn erging es ebenso), irgendetwas würde uns folgen. Auf der dritten Etage versteckten wir uns in einer Herren-Umkleidekabine, setzten uns auf die dort eingebaute kleine Holzbank, schalteten die Lampen aus – und warteten. Den Vorhang der Kabine hatten wir natürlich offen gelassen.
    Nichts jedoch geschah, obwohl wir ein paarmal meinten, ein Knacken gehört zu haben. Vermutlich war es die Kälte gewesen – oder was auch immer. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verloren wir endgültig die Lust, den Konsumtempel von einst weiter zu erkunden. Über die stehen gebliebenen Rolltreppen liefen wir raschen Schrittes ins Erdgeschoss und waren erleichtert, wieder auf der Straße zu sein.
    Hinter dem Kaufhaus befindet sich ein Hallenbad. Irgendwie interessierte es uns – und so gingen wir hinein. Am 17. Juli des vorigen Jahres musste dort wegen der enormen Hitze und der Ferienzeit außergewöhnlich viel Betrieb geherrscht haben. Schon im Eingangsbereich standen überall große, mit diversen Schwimmutensilien gefüllte Sporttaschen herum. Als wir die Tür zum Badebereich öffneten, bot sich uns ein wunderlicher Anblick. Der Pool, bestimmt dreißig mal fünfzehn Meter groß, war komplett zugefroren. Das Licht der Taschenlampen zeigte uns eine weißbläuliche Eisfläche, die wie ein perfekt glatt geschliffener Bergkristall gewirkt hätte – wäre da nicht am anderen Ende des Beckens, mitten auf dem Eis, ein Gegenstand zu sehen gewesen. Wir gingen entlang dem Beckenrand näher heran und erkannten, dass es sich um einen festgefrorenen weißen Kinderschwimmring handelte, aus dem ein mit Luft gefüllter

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