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Der Tag an dem die Sonne verschwand

Titel: Der Tag an dem die Sonne verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Domian
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der größten nur denkbaren Katastrophe? Und dann auch noch in Anwesenheit eines Mannes?

34. EINTRAG
    6. Februar. Wir haben beschlossen, eine Expedition in die Stadt zu unternehmen. Wahrscheinlich morgen. Wir wollen die Wohnung für einige Stunden verlassen, uns gemeinsam umsehen und bei der Gelegenheit ein paar Dinge besorgen. Tiefschneeschuhe für Finn zum Beispiel (vielleicht gehen wir ja in Zukunft öfter hinaus), Champagner für uns beide und Kaviar für mich – ich habe so Lust auf Kaviar, unter meinen Vorräten befindet sich keine einzige Dose, Finn mag das Zeug nicht.
     
    Es ist jetzt 21.00 Uhr. Ich sitze hier über meinem Papier, wie immer am Tisch. Finn liest auf der Couch.
    Während des ganzen Nachmittags hat er mir Bewegendes aus seiner Vergangenheit erzählt. Ich bin noch ganz benommen davon.
    Als er Mitte zwanzig war, wäre er fast gestorben. Und das nicht an einer Krankheit oder den Folgen eines Unfalls, sondern weil er die Macht über sich selbst verloren hatte.
    Mehr als drei Jahre war er harter Kokser gewesen. Und im letzten Jahr seiner Kokskarriere arbeitete er auch noch als Stricher. Zum Schluss lag er in der Gosse, hatte Schulden über Schulden und jede Hoffnung verloren.
    Es begann mit einer harmlosen Line bei Freunden, an einem Silvesterabend, kurz nach Mitternacht. Finn hatte zuvor noch nie Drogen konsumiert. Er sog das weißglitzernde Pulver in seine Nasenlöcher, so wie die anderen es auch taten, und schon wenige Minuten später galoppierte sein Selbstwertgefühl in ungeahnte Höhen. Er geriet in eine fantastische Euphorie und tanzte wie ein Verrückter die ganze Nacht hindurch. Immer wieder bot man ihm das Zauberpulver an – und jedes Mal machte das Tanzen noch mehr Spaß. Das war der Anfang.
    Von dieser Neujahrsnacht an hatte er nur noch ein Bestreben: regelmäßig Kokain zu bekommen. Er vernachlässigte alles: seine Arbeit (zu jener Zeit jobbte er als Schreiner in einer kleinen Firma), seine Eltern, seine Freunde. All sein Erspartes ging drauf. Zuerst nahm er das Zeug lediglich an den Wochenenden, später jeden Tag. Er verlor seine Arbeit, verkehrte nur noch in Kokserkreisen und lernte dort irgendwann einen jungen Stricher kennen, mit dem er sich schnell anfreundete. Und es kam, wie es kommen musste …
    An einem verregneten Nachmittag im März stand Finn gemeinsam mit dem Jungen auf einem Bahnhofsvorplatz und hielt Ausschau nach Freiern. Er hatte, genauso wie der Junge vor seinem ersten Einsatz, noch nie Sex mit Männern gehabt, und er empfand, so wie der Junge noch immer, nur Abscheu und Ekel. Aber das Geschäft brachte gutes und schnell verdientes Geld. So finanzierte Finn bis zum Schluss seine Sucht. Drei, vier Gramm Koks verbrauchte er täglich. Alles drehte sich um den Schnee! Er fertigte einen Freier nach dem anderen ab und gab den Hurenlohn sofort wieder für Kokain aus. Hatte die Droge ihn anfänglich in Euphorie versetzt und ihm große Gefühle vorgegaukelt, so hielt sie ihn am Ende nur noch gerade so eben über Wasser. Ihm war, als würde er ohne Koks gänzlich in einen unendlichen, schwarzen Abgrund stürzen. Und davor hatte er panische Angst. Seine Wohnung wurde ihm gekündigt, er hauste mal hier, mal dort, und trotz Dauereinsatz am Bahnhof reichte das Geld nie aus. Er litt zunehmend an Halluzinationen und Verfolgungswahn und verfiel körperlich. In den frühen Morgenstunden einer Sommernacht – er hatte gerade einen »Kunden« bedient – brach er vor dem Waschbecken der Bahnhofstoilette zusammen. Erst fünf Tage später kam er wieder zu sich – auf der Intensivstation einer Klinik. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten und wäre fast zu Tode gekommen.
    »Wenn Sie Ihr Leben nicht radikal verändern, wird es für Sie keine Zukunft mehr geben«, hörte Finn eine Männerstimme sagen, als er aus dem Koma erwachte. Und er hörte das Piepsen und Ticken verschiedener Überwachungsgeräte, mit denen er verbunden war. Er öffnete seine Augen – und neben seinem Bett stand ein älterer Arzt, der ihn ernst anschaute und dann weitersprach: »Ja, eine zweite Chance werden Sie nicht bekommen. Wollen Sie Ihr junges Leben auf den Müll werfen?!« Diese wohl eher brutale Begrüßung im Diesseits sei, so meint Finn, genau das Richtige damals gewesen. Hätte man ihm später, als es ihm schon wieder besser ging, ins Gewissen geredet, der Appell wäre wohl ohne Wirkung geblieben. So aber war das Ganze für ihn ein heilsamer Schock: der Vorfall selbst, die Ansprache des Arztes, die

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