Der Tag an dem die Sonne verschwand
zusammen.
LORENZ: Das heißt, der Unsterbliche ist auch nicht in der Lage, sich selbst zu töten, sollte er des Lebens irgendwann doch müde sein?
FINN: Genau! Er muss leben, für immer und unter allen Umständen. Dafür aber hat eben der Tod keine Macht über ihn, und niemals wird er körperliches Leid verspüren. So ist der Pakt. Also, ein Leben in Ewigkeit – oder ein Leben, das vielleicht achtzig Jahre andauert und mit Gebrechen, Schmerzen und schließlich dem Tod endet! Wofür würdest du dich entscheiden?
LORENZ: Gibt es noch andere Unsterbliche auf der Erde?
FINN: Nein, du bist der einzige – und das für alle Zeiten.
LORENZ: Werde ich sichtbar älter werden?
FINN: Nein. Dein Äußeres bleibt unverändert. Wenn du zum Beispiel mit dreißig den Zauber annimmst, siehst du für immer so aus wie ein Dreißigjähriger. Nun, wie lautet deine Antwort?
LORENZ: Was für eine große Frage! Ich will ehrlich sein – früher, vor Maries Tod, hätte ich nicht lange überlegt! Ich hätte eingeschlagen. Ja, topp, der Pakt gilt! Ich will leben! Für immer! Dem Tod entkommen! Ich will alles in der Welt erleben. Und alles Neue immer wieder in mich aufsaugen. Ich will die Zukunft sehen und mitgestalten. Ich will auf ewig alle Sinnenfreuden genießen. Ich will den Fortschritt erfahren, den wissenschaftlichen, den kulturellen, den technischen. Ich will erleben, wie die Menschen ins Weltall reisen, das Weltall besiedeln. Ich selbst will auf fremden Sternen gehen. Ich will keine Angst mehr haben vor Krankheit und Schmerz. Ich will tausend Träume verwirklichen, tausend Frühlinge erleben, tausend Frauen lieben!
FINN: Meinst du, man kann tausendmal lieben? Tausendmal wirklich lieben?
LORENZ: Damals hätte ich es geglaubt. Aber was würdest du dem Zauberer antworten? Ewiges Leben – oder endliches Dasein?
FINN: Endliches Dasein! Zu jedem Zeitpunkt meines Lebens hätte ich mich gegen die Unsterblichkeit entschieden. Ganz besonders nach meinem Zusammenbruch, nach dem Infarkt.
LORENZ: Warum so eindeutig? Wäre der Gedanke nie eine Verlockung für dich gewesen? Er ist doch verlockend!
FINN: Nein! Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres! Ewig leben zu müssen, ist ein Fluch. Ich stelle es mir schrecklich vor. Nach ein paar hundert Jahren ist man bestimmt so abgestumpft, dass man sich für nichts mehr interessiert.
LORENZ: Aber warum? Es passiert doch ständig etwas Neues. Man kann sich an der unendlichen Fülle des Lebens ohne Ende berauschen.
FINN: Daran glaube ich nicht. Vielleicht ist es die ersten zweihundert Jahre interessant, wenn überhaupt, dann aber wird es trist und fade, da sich im Grunde doch alles immer und immer wiederholt: die Sonnenaufgänge, die Sonnenuntergänge, die Kriege, die Erfolge, die Niederlagen, das Gebären, das Sterben – und auch die Liebe. Immer dieselben Hoffnungen, immer dieselben Enttäuschungen, immer dieselben Gespräche …
LORENZ: Aber man kann an so vielem teilhaben, und man ist in der Lage, die immense Erfahrung, die man im Laufe der Zeit sammelt, zum Wohle der Menschheit einzusetzen.
FINN: Ja, vielleicht kann man sich während einer gewissen Zeitspanne darum bemühen. Aber dann wird man dessen doch bestimmt müde, weil die Menschen nicht belehrbar sind. Oder sind sie belehrbar? Ich glaube es nicht. Sie machen immer wieder dieselben Fehler. Und vielleicht erstirbt jeder Enthusiasmus, jede Leidenschaft, jeder Idealismus, wenn man zu viel Scheitern erlebt hat.
LORENZ: Welches Menschenbild sich wohl im Laufe der Jahrhunderte in einem formt?
FINN: Bestimmt kein gutes. Bestimmt erkennt man immer schneller und schneller die Masken der Menschen und sieht dahinter ihre Eitelkeit, ihre Machtsucht, ihre Gier, ihre Lügen.
LORENZ: Und was ist mit der Liebe? Ist es nicht wunderschön, für immer lieben zu können, für immer geliebt zu werden?
FINN: Ja, und tausend und abertausend Mal zu erleben, wie der geliebte Mensch alt wird, verfällt – und schließlich stirbt? Hinter tausend und abertausend Särgen gehen? Den Särgen der Geliebten und den Särgen der eigenen Kinder. Immer wieder Abschied nehmen, und immer bleibt man alleine zurück. Wie viele Abschiede erträgt wohl ein Mensch?
LORENZ: Ich weiß es nicht. Aber du hast Recht: Die Einsamkeit ist sicher grauenhaft. Keine Frau bleibt, kein Freund, kein Sohn, keine Tochter. Man wird ständig verlassen. Man muss auch immer aufs Neue seinen Wohnsitz und
Weitere Kostenlose Bücher