Der Tag an dem die Sonne verschwand
Augenblickes nur deshalb so tief empfinden konnte, weil der andere zugegen war.
Eine weitere Erinnerung schoss mir durch den Kopf: Marie und ich hatten uns bei einem Bauern im Allgäu eingemietet. Es war ein alter Hof und direkt vor unserem ebenerdigen Zimmer lag eine ans Haus grenzende Blumenwiese. Jeden Abend, nach unseren Wanderungen, kletterten wir aus dem Fenster, nahmen uns eine Decke mit und saßen dort, bis es kühl wurde. Und jeden Abend kam der Hund des Hofes bei uns vorbei. Es war ein Berner Sennenhund, den Marie sogleich in ihr Herz geschlossen hatte. Überhaupt liebte sie Hunde sehr. Immer wieder sprach sie davon, sich irgendwann einen anzuschaffen. Der Hund, gerufen Karl, hatte Marie seinerseits auch sofort in sein Herz geschlossen; was aber wohl zunächst nicht an ihrem einnehmenden Wesen lag, sondern vielmehr an der ungarischen Salami, mit der sie ihn vom ersten Tage an verwöhnte. Sie wurde seine beste Freundin, und er umwarb sie geradezu. Auch nach den Fütterungen blieb er bei uns, legte seinen Kopf auf Maries Schoß, sie strahlte übers ganze Gesicht, kraulte Karls Nacken, und der wiederum belohnte das Kraulen mit einem genüsslichen Brummen bei geschlossenen Augen. Ich glaube, in diesen Momenten war Karl der glücklichste Hund der Welt – und Marie, na ja, vielleicht nicht die glücklichste Frau der Welt, aber sie wirkte rundherum froh.
Wie lebendig mir das Bild vor Augen stand: die schöne Blumenwiese, Maries buntes Wanderkleid, Maries Lachen, der selige Karl und im Hintergrund die Allgäuer Alpen …
»Du bist wieder bei Marie, stimmt’s? Und du bist sehr traurig«, hörte ich eine Stimme sagen.
Finn war zu meinem Sessel gekommen, hatte sich auf die Armlehne gesetzt, und ich spürte seine Hand auf meinem Bein.
»Es ist vorbei!«, sagte er. »Und wenn du zu sehr trauerst und wenn du zulässt, dass die Schuldgefühle zu große Macht über dich gewinnen, dann zerstörst du dich! Niemals hätte sie das gewollt, niemals!«
Erst jetzt kam ich wirklich zu mir, so versunken war ich in meine Erinnerungen gewesen. Ich drehte meinen Kopf hin zu Finn, schaute in seine Augen, empfand dabei Wärme und Herzlichkeit, legte meine behandschuhte Hand auf seine – und so saßen wir schweigend eine Weile, bis ich sagte: »Ja, du hast Recht. Wir sollten nach Hause gehen.«
36. EINTRAG
So intensiv wie mit Finn habe ich mich noch nie mit einem Mann unterhalten. Natürlich liegt das an der Ausnahmesituation, in der wir hier existieren. Aber es liegt auch an ihm. Ich vertraue ihm immer mehr. Ich achte und schätze ihn. Und ich habe das Gefühl, dass er mir ein tiefes Verständnis entgegenbringt.
Umgekehrt spüre auch ich ein großes Interesse an seiner Person und seiner Vergangenheit. Es macht mir Freude, ihm Fragen zu stellen und ihm zuzuhören. Ich versuche, mich in seine Vergangenheit und sein Denken einzufühlen. Und ich glaube, auch er vertraut mir immer mehr. Wie schade, dass wir uns nicht schon zu normalen Zeiten, zum Beispiel in den letzten Jahren, begegnet sind! Aber vermutlich hätte ich einen näheren Kontakt gar nicht zugelassen. So menschenscheu und in mich gekehrt war ich nach Maries Tod geworden.
Es gibt keine Spannungen zwischen uns. Was ich erstaunlich finde, da wir auf engem Raum und unter schlimmsten Voraussetzungen zusammenleben.
Die Tage sind strukturiert durch unsere Rituale – und die Zeit vergeht wie im Fluge. Gestern haben wir bis tief in die Nacht hinein über die Unsterblichkeit diskutiert. Über das Für und Wider. Als Grundlage unseres Gedankenspiels nahmen wir die Welt, wie sie früher war. (Natürlich, was auch sonst? Bestimmt nicht die jetzige Welt!) Und dann stellten wir uns vor, ein Zauberer böte uns die Unsterblichkeit an. Würden wir annehmen? Oder würden wir dankend ablehnen und ganz normal den irdischen Weg zu Ende gehen? Ich versuche unser Gespräch zu rekonstruieren:
LORENZ: Wie soll der Zauber funktionieren? Ist man auch unverwundbar?
FINN: Ja. Eine magische Aura schützt den Körper vor Beschädigungen. Kugeln prallen an ihm ab. Messerstiche bleiben ohne Folgen. Zudem wird man niemals krank und hat kein Schmerzempfinden.
LORENZ: Was passiert bei einem Unfall? Nehmen wir an, der Unsterbliche gerät aufgrund widriger Umstände unter die tonnenschwere Last einer Straßenwalze?
FINN: Selbst die kann ihm nichts anhaben. Sie rollt über ihn hinweg, und danach steht er wieder auf und geht weiter. Der Körper findet sich immer wieder
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