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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Meine Tante zog eine Braue in die Stirn.
    «Tja … hmmm … Genau darüber wollte ich mit meiner Tante reden, in der Hoffnung, dass sie weiß, wo Tulip unterkommen kann.»
    «Hmmm …», erwiderte meine Vermieterin. «Sonntag also.»
    «Ja, Sonntag gebe ich Ihnen Bescheid.»
    «Dieser Hund pinkelt überallhin, knabbert alles an. So ein Tier können Sie sich gar nicht leisten.»
    «Sie haben recht.»
    «Sie gefällt mir», sagte meine Tante und meinte damit Frances.
    Ich lächelte. «War mir klar.»

    Als ich meine Tante durch den Flur zu meinem Zimmer führte, wurde ich wieder nervös. Wie ein Teenager, der darauf hofft, seine Eltern mit der ersten Studentenbude beeindrucken zu können, nach dem Motto: Schaut mich an und das, was ich ganz allein zustande gebracht habe. Saubere Laken, gemachtes Bett, sorgfältig zusammengelegte Wäsche.
    Tulip begrüßte uns an der Tür. Ihr war anzumerken, dass es ihr nicht gefallen hatte, von den vormittäglichen Abenteuern ausgeschlossen gewesen zu sein. Sie weigerte sich, mich zu begrüßen, verwandte aber all ihren Charme auf meine Tante, die die üblichen Fragen stellte. Wie ihr Name sei, welcher Rasse sie angehöre. Und was für ein hübsches Gesicht sie habe, meinte sie; wie artig.
    Während sie den Hund hofierte, von dem ich hoffte, dass er ihrer würde, versuchte ich, meiner Rolle als Gastgeberin gerecht zu werden. Ich besorgte einen Stuhl für meine Tante, schenkte ihr Kaffee nach und schloss die Tür, damit wir uns ungestört unterhalten konnten. Ich setzte mich auf die Bettkante, sie nahm auf dem Holzstuhl Platz, und Tulip legte sich zwischen uns auf den Boden. Sofort kamen wir ins Gespräch.
    «Du hast eine weite Reise auf dich genommen. Wäre doch nicht nötig gewesen», sagte ich, ohne ihr in die Augen zu sehen.
    Ich dachte an Detective Warrens Einschätzung der Morde an Randi und Jackie. Sie seien aus nächster Nähe erfolgt und wahrscheinlich persönlich motiviert gewesen; der Täter habe keine Gefahr dargestellt und sei wohl mit offenen Armen empfangen worden.
    Vor meiner Tante konnte ich kaum Angst haben.
    Oder?
    «Hat die Polizei noch etwas herausfinden können?», fragte sie.
    «Über die Morde an Randi und Jackie?» Ich schüttelte den Kopf. «Nein. Aber zwei Bostoner Detectives haben die Ermittlungen wieder aufgenommen.»
    «Du fürchtest immer noch, die Nächste zu sein.» Eine Feststellung, keine Frage.
    Ich nickte.
    «Du hast abgenommen, Charlene. Siehst ganz verändert aus. Härter.»
    «Kann sein.»
    «Es bekommt dir nicht, Charlene. Das Leben hier, meine ich. Es ist nicht gut für dich.»
    Ich schaute ihr nun ins Gesicht und überraschte mich selbst mit der Frage: «Was ist damals mit meiner Mutter geschehen?»
    Die blauen Augen meiner Tante weiteten sich plötzlich. Ich glaube, sie wäre nicht annähernd so entsetzt gewesen, hätte ich ihr gestanden, ein Mann in Frauengestalt zu sein. Aber sie fing sich schnell wieder. Zupfte an den Haarspitzen im Nacken und klemmte sich eine Locke hinters Ohr.
    Ihre Hände zitterten. Mag sein, dass sie mein Aussehen weniger hart in Erinnerung hatte, dafür nahm ich wahr, dass sie um Jahre gealtert war. Es schien, als habe ihr der lange Winter mächtig zugesetzt.
    Oder hatte sie während der vergangenen Monate ihren eigenen Countdown auf den Einundzwanzigsten vollzogen? Was machte mehr Stress: die Angst um sich selbst oder um einen geliebten Menschen?
    Sie antwortete schließlich mit einer Gegenfrage: «Was glaubst du denn?»
    «Sie ist tot, und ich glaube, es ist meine Schuld», erwiderte ich. «Ich habe irgendetwas gemacht … mich gewehrt oder die Beherrschung verloren. Keine Ahnung. Jedenfalls habe ich sie wohl verletzt, so schlimm, dass ich mich nicht mehr erinnere. Ich glaube, ich will nicht wahrhaben, was ich getan habe.»
    «Soweit ich weiß, ist sie nicht tot, Charlene.»
    «Was?»
    «Charlene Rosalind Carter Grant», sagte meine Tante in verändertem Tonfall.
    «Ich verstehe nicht.»
    «Du willst nicht verstehen?»
    «Wieso stellst du mir ständig solche Fragen?»
    «Weil mir das schon damals die Ärzte im Krankenhaus geraten haben. Sie meinten, ich solle dir nicht sagen, was geschehen ist, sondern dir Liebe und Unterstützung angedeihen lassen. Irgendwann, wenn du dich sicher genug fühltest, würde deine Erinnerung von allein wieder einsetzen.
    Ich habe zwanzig Jahre gewartet, Charlene, immer darauf gefasst, dass du dieses Thema anschneidest oder, schlimmer noch, dass deine Mutter plötzlich wieder

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