Der Tag, an dem du stirbst
der Schädel zerspringen, ich glaubte, weinen oder schreien zu müssen. Aber das durfte ich ja nicht, und so drückte ich mir die Fäuste vor die Augen, um den Schmerz unter Kontrolle zu halten. Als das nicht half, rammte ich meinen Kopf gegen die Wand in der irrigen Hoffnung, meine inneren Qualen durch äußerliche Gewalt zu vertreiben. Ich schlug so heftig mit dem Kopf vor die Wand, dass zwei State Trooper herbeigeeilt kamen, die Hände an den Waffen.
Charlene Rosalind Carter Grant. Ich wollte unbedingt, dass dieser Name in meinem Führerschein stand. Ein anderer Name kam für mich nicht in Betracht. Es hätte mir zu weh getan. Zu weh getan, jemand anderes zu sein.
«Mir ist damals schlecht geworden», murmelte ich. «Ich musste gehen.»
«Ja, ich habe dich zum Wagen gebracht, nach Hause gefahren und ins Bett gesteckt», erinnerte mich meine Tante. «Ich saß die halbe Nacht an deinem Bett und wartete darauf, dass du dich wieder einkriegst und mit mir sprichst. Dass du mir sagst, woran du dich erinnert hast. Aber es kam kein Wort von dir. Am nächsten Morgen um sieben bist du dann in die Küche gekommen. Du sagtest, wenn es denn nicht der volle Name sein könne, würdest du dich auch mit Charlene Grant begnügen. Du hast später nie wieder davon gesprochen.»
«Die Kopfschmerzen waren plötzlich wieder weg», erklärte ich. «Ich wachte auf und beschloss: Es ist ja nur ein Führerschein. Um meinen Namen ging es nicht wirklich. Also war es letztlich egal. Ich würde … Damit war für mich die Sache erledigt.»
Meine Tante lächelte mich an, war aber sichtlich traurig. Sie streckte den Arm aus und berührte meinen Handrücken, auf dem trotz der Blutergüsse die feinen weißen Narben zu erkennen waren.
«Du bist ein starkes Mädchen, Charlene. Wenn du die Vergangenheit vergessen musst, um deine Zukunft zu finden, solltest du dich durch niemanden beirren lassen. Die Ärzte damals meinten sogar, wenn man dich zwänge, die Tatsachen anzuerkennen, würde man dir womöglich mehr schaden als helfen. Ich habe ihren Rat befolgt und mich damit begnügt, darauf zu warten, dass du dich von dir aus öffnest. Und das würde ich jederzeit wieder tun, Charlene. Denn ich habe dir nicht geholfen, als du mich am meisten brauchtest, und das kann ich mir nicht verzeihen. Aber es ist meine Schuld, die auf mir lastet, nicht deine.»
«Mein richtiger Name ist gar nicht Charlene Rosalind Carter Grant», hörte ich mich sagen.
«Es ist nicht der Name, der auf deiner Geburtsurkunde steht.»
«Deshalb bin ich auf dem Straßenverkehrsamt … Es hatte mit den zwei Mittelnamen nichts zu tun. Es war wegen der Geburtsurkunde. Du hast sie mir gezeigt, und ich bin wütend geworden. Weil auf ihr weder Rosalind noch Carter stand. Und weil mir der Kopf zu schmerzen anfing. Und mein Magen …»
Meine Tante sagte nichts.
«Aber ich bin Charlene Rosalind Carter», insistierte ich schwächlich, ohne wirklich überzeugt zu sein. «Ich … ich fühle es.»
«Das ist der Name, den du dir selbst gegeben hast. Und das durftest du. Das war dein gutes Recht.»
Plötzlich fiel mir die Liste ein, die ich für Detective Warren aufgesetzt hatte. Ich hatte aus einem Impuls heraus zwei Namen geschrieben: Rosalind Grant und Carter Grant. Sie in einem Polizeibüro schwarz auf weiß zu sehen, hatte sich richtig angefühlt.
Was ich der Krankenschwester nicht hatte sagen können, hatte ich somit immerhin zu Papier gebracht.
Ich schaute meine Tante an. Und hatte den Eindruck, als öffnete sich tief in meinem Kopf eine Falltür. Darunter lauerten Gespenster und Monster, die jeden normalen Menschen in den Wahnsinn getrieben hätten.
Doch ich trat einen Schritt näher heran. Charlene Rosalind Carter Grant. Rosalind Grant. Carter Grant.
«Das Baby weinte», flüsterte ich.
«Es tut mir leid, Charlene.»
«Ich wollte es der Krankenschwester sagen und habe es nicht getan.»
Noch ein Schritt näher heran.
«Ich war zu jung, viel zu jung.»
«Liebes.» Meine Tante erhob sich und legte mir beide Hände auf die Schultern. Tulip, die zu ihren Füßen lag, stand winselnd auf. «Es ist alles in Ordnung. Du hast dir nichts vorzuwerfen.»
«Ich war ja selbst noch ein Kind.»
«Ja, ich weiß, Liebling, ich weiß.»
«Das Baby weint!» Nur dass es sie, die Kleine, nicht mehr gab. Sie war still und bleich wie Marmor. Blaulippig, als ich ihre kalte Wange streichelte in der Hoffnung, sie würde die Augen öffnen und ihr strahlendes Lächeln zeigen.
Charlene Rosalind
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