Der Tag, an dem du stirbst
war mein Leben ein einziger Scheißdreck. Trotzdem fühlte ich … Ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, vor einer großen Entdeckung zu stehen. Mir war endlich bewusst, wie viel Kraft in meinen Armen und Beinen steckte. Endlich, nach achtundzwanzig Jahren, hatte ich gelernt, ich selbst zu sein.
Ich wollte noch viele solcher Morgenstunden erleben. Mehr Runden am Sandsack, mehr knackig kalte Wintertage. Ich wollte mit dem Hund, der gar nicht meiner war, spazieren gehen und ihm mit der Hand den hübschen Kopf streicheln. Ich wollte laufen und lachen und mich irgendwann auch einmal verlieben. Warum auch nicht? Vielleicht ein paar Kinder in die Welt setzen und sie in den Bergen aufziehen, wo zwar jeder jeden kannte, aber wo man auch aufeinander achtete und nicht selten in lächelnde Gesichter blickte.
Ich dachte an Officer Mackereth. An seine Einladung zum Brunch. Daran, dass ich meine letzte Schicht hinter mir hatte und ihn womöglich nie wieder sehen würde.
Noch siebenunddreißig Stunden.
Worauf wartete ich eigentlich? Ich war, wer ich war, hatte getan, was ich getan hatte, und in anderthalb Tagen würde geschehen, was geschehen musste.
Kein Training mehr. Keine Planung. Keine Vorbereitung.
Einfach nur leben. Etwas anderes blieb mir in den nächsten siebenunddreißig Stunden nicht zu tun übrig.
Das ließ ich mir jetzt durch den Kopf gehen. Ja, ich machte mir ernstlich Gedanken darüber.
Und dann, als ich um die Ecke in meine Straße einbog, sah ich Tante Nancy vor der Haustür stehen.
Ich kenne meine Tante seit nunmehr zwanzig Jahren. Sie ist eine praktische Frau, geht spät zu Bett, steht früh auf und arbeitet hart in der Zwischenzeit. Auch sie hat Probleme, aber keine, die als solche nicht zu erkennen und angemessen zu bewältigen wären. Ihr Patentrezept heißt Knochenschmalz. Wenn das nicht hilft, helfen frischgebackene Butterkekse.
In unseren gemeinsamen Jahren haben wir manchmal geweint, uns in den Arm genommen und meistens gelacht. Meine Tante hält Lachen für gesund; es ist für sie unverzichtbar, schließlich leitet sie eine Pension.
Es war darum doppelt seltsam für mich, sie völlig unerwartet auf der überdachten Veranda eines dreigeschossigen Hauses in Cambridge anzutreffen. Wir standen befangen einander gegenüber. Ich hatte die Hände immer noch in den Taschen und muss wohl ziemlich entsetzt ausgesehen haben.
«Charlene», sagte sie schließlich und brach das Schweigen als Erste.
«Wie …? Wann …?»
«Es ist Zeit, Charlene. Komm nach Hause.»
Ich starrte sie noch eine Weile an und versuchte, klar zu denken. Meine Glut vom Training war erloschen. Stattdessen fühlte ich mich unwohl.
«Komm doch rein», sagte ich endlich und zog den Haustürschlüssel aus der Tasche.
Sie nickte lebhaft. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie weder Mütze noch Handschuhe trug. Ihre normalerweise blassen Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihr zierlicher Körper zitterte unter dem langen Wintermantel.
Endlich umarmte ich sie und spürte, dass sie meine Geste dankbar erwiderte. Damit hätte das Eis gebrochen sein können, doch ich reagierte nur noch verwirrter. Natürlich wusste meine Tante, wo ich wohnte. Sie war die einzige Person, mit der ich noch Kontakt hielt. Ich hatte mir sogar für diesen Tag vorgenommen, sie anzurufen und zu bitten, sich um Tulip zu kümmern.
Aber sie hier bei mir anzutreffen, heute, unangemeldet, am Tag vor dem Einundzwanzigsten – das war mir so gruselig, dass ich sie vor mir her ins Haus meiner Vermieterin gehen ließ und fest im Auge behielt.
Meine Hauswirtin stand immer früh auf und saß am Küchentisch, als wir eintraten. Sie trug noch ihren rosa-violett gestreiften Morgenmantel, was sich aber für eine Frau in ihrem Alter durchaus schickte. Als sie meine Tante bemerkte, meinen ersten Gast überhaupt, zuckte sie vor Schreck zusammen.
Ich stellte die beiden vor. «Fran, das ist meine Tante Nancy; Tante Nancy, das ist Frances Beals, meine Vermieterin.»
Meine Tante trat auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. Nun bemerkte auch Fran, dass sie zitterte.
«Waren Sie lange draußen, bei diesem Wetter? Gütiger Himmel, Sie sind ja völlig durchgefroren. Trinken Sie erst mal eine Tasse Kaffee. Wie hätten Sie ihn gern?»
«Schwarz, danke. Sie haben es sehr gemütlich hier.»
«Das Haus ist hundertdreiundfünfzig Jahre alt», erklärte Fran. «Aber ich sage immer, das alte Mädchen sieht keinen Tag älter aus als hundert.»
«Ich kann mir gut vorstellen, wie
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