Der Tag, an dem du stirbst
man sich in diesem Alter fühlt», erwiderte meine Tante.
Frances lachte und machte sich in der Küche zu schaffen. Ich nahm meiner Tante den Mantel ab, rückte ihr einen Stuhl zurecht und fragte, ob sie frühstücken wolle.
Tante Nancy schüttelte den Kopf, ließ aber erkennen, dass sie sehr wohl Hunger hatte. Ich hängte ihren Mantel auf, kehrte in die Küche zurück und schaute in der Vorratskammer auf dem Regalbord, das meinen Namen trug, nach, was ich ihr anbieten konnte. Es war nur Vollkorntoast.
Hinter mir unterhielten sich die beiden Damen über das Haus, Boston, New Hampshire und das Leben als Vermieterin beziehungsweise Pensionsbetreiberin. Mir war es sehr recht, dass sie mich kaum beachteten und nicht sahen, wie sehr meine Hände zitterten. Sie bemerkten auch nicht, wie ungeschickt ich mich mit dem Toaster anstellte.
Vor zwei Wochen hatten meine Tante und ich das letzte Mal miteinander telefoniert. Es war kein Wort davon die Rede gewesen, dass sie kommen wollte oder dass ich vorhätte, nach Hause zurückzukehren. Wir hatten unsere Regeln, und eine davon lautete: Der Einundzwanzigste blieb unerwähnt. Das war die Grundlage unserer Beziehung – gegenseitige Liebe und Unterstützung unter Ausklammerung unangenehmer Wahrheiten.
Meine frühe Kindheit war «belastet», meine Mutter «fehlgeleitet» gewesen. Randis und Jackies Schicksal bezeichneten wir als «tragisch».
Neu-Engländer muss man einfach gern haben. Wir kommen mit allem zurecht, und was man nicht zur Kenntnis nehmen will, wird so gründlich übertüncht, dass es gar nicht mehr zu sehen ist.
Ich schaffte es schließlich doch, zwei Brotscheiben aus der Packung zu ziehen und in den Toaster zu stecken. Während sie rösteten, verrührte ich ein Päckchen Eiklar, das ich noch gefunden hatte, in der Bratpfanne. Solange ich am Herd stand, sahen mich meine Tante und meine Vermieterin nur von hinten. Sie plauderten miteinander, doch ab und zu spürte ich den kritischen Blick meiner Tante auf mich gerichtet.
Als das Brot aus dem Toaster sprang, legte ich die Scheiben auf zwei Teller, verteilte das gebratene Eiweiß darauf und servierte.
Meine Tante blickte auf und stoppte mitten im Gespräch. Sie starrte auf meinen entblößten Hals, genauso wie Frances. Zu spät fiel mir ein, dass die gestrige Trainingseinheit mit J.T. Spuren hinterlassen hatte.
«Gütiger Himmel», flüsterte meine Tante.
«Kommt vom Sparring», entschuldigte ich mich.
«Dein Hals … deine Hände !»
Mehrere Knöchel waren dunkelviolett angelaufen, die linke Hand aufgeschürft und das Handgelenk leicht geschwollen. Ich setzte die Teller ab und versteckte die Hände hinter dem Rücken. «Du solltest erst mal meinen Gegner sehen.»
Meine Tante und meine Vermieterin musterten mich immer noch mit ähnlich entsetzten Blicken.
«Ist alles in Ordnung», sagte ich mit fester Stimme. «Ich habe angefangen zu boxen, das ist alles. Es gefällt mir. Und nun iss.»
Ich setzte mich zu ihnen und griff nach meinem Toast. Meine Tante betrachtete neugierig das mit gestocktem Eiweiß beschichtete Brot und probierte davon.
«Sehr lecker», meinte sie, kaum dass sie den Bissen heruntergeschluckt hatte. «War zwar nie ein Fan von Eiweiß, aber mit diesem Brot schmeckt’s richtig gut.»
«Ihre Nichte kann kräftig zulangen», bemerkte Fran.
Ich schaute sie überrascht an. Mir war bislang noch nicht aufgefallen, dass sie sich für meine Essgewohnheiten interessierte.
«Und sie ist fleißig», fuhr Fran fort, die sich offenbar in der Rolle meiner Fürsprecherin gefiel. «Sie arbeitet ja immer nachts, kommt dann nach Hause, um zu schlafen, und ist pünktlich zur nächsten Schicht wieder fit. Für Flausen hat sie keine Zeit.»
«Charlene ist ein tüchtiges Mädchen», pflichtete meine Tante ihr bei. «Sie war mir in meiner Pension immer eine große Hilfe. Das ganze letzte Jahr habe ich sie sehr vermisst.»
Ich aß noch ein Stück von meinem Toast und kam mir langsam vor wie ein Außenseiter in meinem eigenen Leben.
«Der Mietvertrag ist bald abgelaufen», bemerkte Fran und schaute mich an. «Haben Sie sich schon entschieden, ob Sie bleiben oder nicht?»
«Am Sonntag gebe ich Ihnen Bescheid.»
Meine Tante wusste genau, warum ich das sagte, und legte die Stirn in Falten.
«Falls Sie bleiben, wird dann auch der Hund einziehen, der gar nicht Ihrer ist?», fragte Fran. «Ich meine das Tier, das eigentlich draußen sein sollte, sich aber stattdessen in Ihrem Zimmer aufhält?»
Ich errötete.
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