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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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zu gehen, an den winzigen Ort, der mich all die Jahre an der Seite meiner Mutter hatte überleben lassen, an dem ich mich für nichts zu entschuldigen brauchte und stattdessen die Bereitschaft fand, den Kampf aufzunehmen.
    Es war ungefähr im vierten Monat meines Boxtrainings, als ich mich zufällig im Wandspiegel erblickte. Mir fiel auf, dass ich jede Menge Muskeln angesetzt hatte. Von fünfzig Liegestützen morgens und abends. Vom Seilchenspringen und von der Arbeit an Sandsack und Boxbirne. Und von meiner täglichen Zufuhr an Proteinen, die dem Dreifachen der üblichen Dosis entsprach, denn – auch wenn ich mich widerspreche – Mädchen sind schlichtweg anders gebaut als Jungs. Sie fangen mit weniger Muskelmasse an, legen weniger schnell zu und müssen mehr tun, um sie zu halten. Mit anderen Worten, um mich aufzupumpen, musste ich essen, essen und noch mal essen. Eiweiß und Geflügelwurst, hundertsiebzig Gramm Hühnerbrust, hundertsiebzig Gramm Fisch, Proteinshakes mit Erdnussbutter und griechischen Joghurt mit Proteinpulver.
    Mein Boxtrainer setzte mich dann an die «Ermüdungsarbeit». Ich knöpfte mir schwere Autoreifen vor, wuchtete sie von links nach rechts, von rechts nach links und sprang darauf herum. Nach sechs Monaten hatte ich abgespeckt und gleichzeitig zugelegt. Auf der Straße starrten Passanten auf meine Arme. Die Art, wie ich mich bewegte, veranlasste selbst Halbstarke, mir Platz zu machen. Männer schauten mir ein bisschen respektvoller in die Augen.
    Und das gefiel mir. Körperliche Schmerzen sind ohne Belang, stellte ich fest. Entscheidend ist vielmehr, Angst zu überwinden, Wut zuzulassen und sich stark zu fühlen.
    Es sei denn, man träumt von einem Säugling, den es gar nicht gegeben haben konnte, von der mörderischen Mutter, die es definitiv gab, oder von Stan Miller und dessen blutüberströmtem, von Eisenstangen durchbohrtem Oberkörper.
    War ich jetzt, nachdem ich jemanden umgebracht hatte, ein knallharter Typ? Oder verlangte es nicht vielleicht doch mehr Mut, weiter auf den Sandsack einzudreschen und dabei mein eigenes ausgezehrtes Gesicht im Spiegel sehen zu müssen?
    Ich arbeitete weitere dreißig Minuten am Sandsack. Anschließend stemmte ich Gewichte. Dann stieg ich auf den Stepper. Mit Seilspringen schloss ich mein letztes Training vor dem alles entscheidenden Event ab, das man nur ein Mal im Leben hat. Die nächsten achtunddreißig Stunden wollte ich mich erholen. Wie ein Profiathlet in den letzten beiden Tagen vor dem Marathonlauf würde ich ausruhen. Am Samstag um 20:00 Uhr musste ich fit sein.
    Sechs Uhr. Die ersten Leute kamen, um ihr tägliches Trainingsritual zu absolvieren. Ich wankte in die Umkleide und stellte mich unter die Dusche.
    Und während ich meine erschöpften Muskeln vom heißen, dampfenden Wasserstrahl massieren ließ, fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich nach einem Jahr harten Trainings, in dem ich doch beachtliche Fortschritte gemacht hatte, immer noch so große Angst hatte vor einem Säugling namens Abigail.

    Von der Sporthalle ging ich zu Fuß nach Hause. Ich sah meinen Atem in der frostigen Luft verdampfen und die Sonne über den grauen Horizont kriechen. Mir kamen gähnende Collegestudenten und Pendler mit hochgezogenen Schultern entgegen, die auf den Harvard Square zustrebten, während ich mich davon entfernte.
    Ich hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt und einen schlichten braunen Schal um die Ohren geschlungen. Die Kälte machte mir nichts aus. Sie erfrischte mich nach dem Training. Ich war so ausgepowert, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte und nur noch ins Bett wollte.
    In solchen Momenten empfand ich so etwas wie Bewunderung für die Welt ringsumher. Ich spürte die Schneeflocken auf der Nasenspitze kribbeln und hatte ein Auge für die rosa- und orangefarbenen Streifen am Morgenhimmel, deren Licht die Ziegelbauten zum Glühen brachte.
    Ich wollte nicht sterben.
    Am Leben zu bleiben war mir ein nachdrücklicher Wunsch während des fünfzehnminütigen Fußwegs zurück in mein einsames Zimmer.
    Ich empfand aber auch Reue und Trauer und fühlte mich klein. Ich hatte den Tod eines Menschen heraufbeschworen, der eigenen Mutter etwas Schreckliches zugefügt und beide beste Freundinnen verloren.
    Vor diesem Hintergrund war es im Grunde ein Rätsel, weshalb ich mir überhaupt noch Gedanken machte über das, was am nächsten Tag gegen 20:00 Uhr geschehen mochte. Jedenfalls wollte ich mich nicht geschlagen geben. Vielleicht

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