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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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aufkreuzt. Eine lange Zeit, die auch für mich nicht einfach war. Aber ich hab’s ausgehalten, um dem Rat der Ärzte nachzukommen. Ich habe keine eigenen Kinder; ich wusste damals nicht, was für ein achtjähriges Mädchen richtig oder falsch ist. Meine einzigen Erfahrungen in Sachen Kindererziehung gingen auf den Versuch zurück, meine kleine Schwester zu bändigen. Wir beide wissen, mit welchem Erfolg.» Ich hörte der Stimme meiner Tante zum ersten Mal einen Ton von Bitterkeit an und sah, wie ihre Augen feucht wurden.
    Ich hatte meiner Tante weh getan. Sie zum Weinen gebracht.
    Es tat mir leid, das Thema angesprochen zu haben, und am liebsten hätte ich alles zurückgenommen. Ich bedauerte, New Hampshire verlassen zu haben, und wäre allzu gern wieder zurückgekehrt. Ich hätte alles getan, um meine Tante wieder glücklich zu sehen. Ich hatte doch nur sie und liebte sie von ganzem Herzen.
    Und plötzlich wurde mir bewusst, wie verrückt das Ganze war. Wie schnell ich wieder in alte Muster zurückgefallen war.
    Dabei erwartete meine Tante nicht einmal, dass ich mich ihr zum Gefallen verbog. Sie saß einfach nur da, die Schultern gestrafft und die Zähne aufeinandergebissen. Es schien, als machte sie sich auf meine nächste Frage gefasst.
    «Wenn meine Mutter noch lebt», sagte ich, «wieso versucht sie nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen?»
    «Ich weiß es nicht, Liebes.» Sie zögerte. «Eigentlich habe ich immer damit gerechnet, dass sie dir zumindest irgendwann einmal schreibt. Ich habe mir regelrecht Sorgen gemacht, als das Internet und solche Sachen wie E-Mails und Facebook aufkamen. Aber du hast auch nichts von ihr gehört, oder?»
    «Kein einziges Wort», antwortete ich und brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen.
    «Charlene Rosalind Carter Grant», wiederholte meine Tante.
    «Habe ich sie verletzt?», fragte ich und berührte unwillkürlich meine linke Seite, die Hüfte und meinen Handrücken. Ich konnte nicht anders.
    «Als die Sanitäter eintrafen, fanden sie dich schwer verletzt am Boden. Anfangs hielten sie dich für tot.» Meine Tante sprach diese Worte ganz gelassen aus. Anscheinend waren sie ihr im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre immer wieder durch den Kopf gegangen. «Aber von deiner Mutter fehlte jede Spur.»
    «Ist sie weggelaufen?»
    «Offenbar. Die Polizei hat sie zur Fahndung ausgeschrieben, vor allem auch wegen der anderen Entdeckung …» Sie unterbrach sich und starrte mich an. Weil ich nichts sagte, fuhr sie fort. «Wie dem auch sei, man hat sie bis heute nicht ausfindig machen können. Charlene, ihr werden schwere Straftaten zur Last gelegt. Wahrscheinlich hält sie sich deshalb versteckt. Ich bin mir sicher, sie weiß, dass ich sie der Polizei ausliefere, sobald sie aufkreuzt.»
    Ich blinzelte, erschrocken über die Heftigkeit, mit der meine Tante gesprochen hatte. Mir dämmerte, dass ich all die Jahre in der Furcht gelebt hatte, meiner verrückten Mutter wieder über den Weg zu laufen. Nur so war zu erklären, warum ich zu vergessen versuchte und mich der Gefahr nicht wirklich stellen mochte. Solange ich mich nicht erinnerte, empfand ich diese Angst auch nicht. Und solange mir diese Angst nicht zu schaffen machte, musste ich auch nicht befürchten, den Kopf zu verlieren. Ich fragte mich, ob die stoische, tapfere Haltung meiner Tante auf mich abgefärbt hatte. Das Wesen einer schwer geprüften Frau, die alles ertrug und am Leben festhielt.
    So kurz vor dem entscheidenden Datum wollte auch ich am Leben festhalten.
    «Kannst du dich noch an deine Fahrprüfung erinnern?», fragte meine Tante.
    Der abrupte Themenwechsel überraschte mich. Ich nickte.
    «Du wolltest unbedingt, dass auf dem Führerschein ‹Charlene Rosalind Carter Grant› steht. Als man dir sagte, der Name sei zu lang, warst du schrecklich wütend.»
    «Ich fand es albern, dass nur ein Mittelname erlaubt war, und dachte, auf einem Rechtsdokument müsse doch der volle Name eingetragen sein.»
    «Nein», entgegnete meine Tante.
    Ich senkte den Blick. Und dann sah ich mich plötzlich ins Straßenverkehrsamt von Tamworth zurückversetzt und meinen Führerschein entgegennehmen. Ich hätte mich eigentlich freuen müssen, war aber völlig neben der Spur, rot angelaufen und schweißnass. Ich spürte einen Druck auf mir lasten, den ich mir nicht erklären konnte. Meine Tante hatte mir etwas zugeflüstert, wahrscheinlich um mich zu beruhigen, doch ich hörte nicht, was sie sagte. Ich hatte den Eindruck, als würde mir

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