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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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haben es schwer, und sie glaubt, wir schaffen es nicht allein. Sie braucht ihn, auch wenn er uns die Finger bricht. Ich habe sie angeschrien und nein gesagt. Ich habe gesagt, dass sie uns versprochen hat, uns vor ihm zu beschützen. Da hat sie nur noch mehr geweint und zum Telefonhörer gegriffen. Warum ist sie so, Charlie? Warum liebt sie uns nicht mehr als ihn?»
    Michael hielt inne und fing plötzlich heftig an zu schluchzen. Ich stand da, mit dem Rücken vor einem Schneeberg, und suchte nach Worten, die den Jungen zu trösten und meine Gewissensbisse zu lindern vermochten.
    Ich war in die Rolle des rächenden Todesengels geschlüpft, um den Jungen zu retten. Im Namen der Hoffnung hatte ich mir die Hände schmutzig gemacht mit dem Ergebnis, dass der Junge um seinen Vater trauerte und gleichzeitig froh über dessen Tod war.
    «Es tut mir leid», sagte ich schließlich.
    «Wird alles wieder gut?», fragte Michael, als er wieder reden konnte. Ich wusste, dass er sich vor allem um seine Mutter sorgte.
    «Lass ihr ein bisschen Zeit, Michael. Für deine Mutter ist es ungewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu braucht man Übung.»
    «Sie wird sich mit einem anderen Arschloch zusammentun», sagte er voraus und hatte wahrscheinlich recht damit.
    «Bleibt ihr, wo ihr seid, oder spricht sie davon zurückzukommen?» Ich hatte bisher nicht daran gedacht, dass die Nachricht von Stans Tod Tomika bewegen könnte, in die alte Wohnung zurückzukehren. Womöglich würde sie dann den Nachbarn mitteilen, was vorgefallen war und wie ich ihr geholfen hatte.
    «Ja, sie hat davon gesprochen. Aber wir können nicht zurück. Das Haus wird geräumt und soll dann saniert werden.»
    «Gefällt es dir in der neuen Wohnung?»
    «Der Hof ist ganz schön. Da wachsen Bäume und so. Und die Sonne scheint in die Wohnung. Mica steht immer am Fenster und lächelt sogar manchmal.»
    «Gut. Das freut mich.»
    «Mom sagt, dass wir noch umsonst wohnen.»
    «So ist es.» Ich hatte die ersten zwei Monatsmieten im Voraus bezahlt, für das Obergeschoss eines umgebauten Hauses in der Nähe eines Parks und einer anständigen Grundschule. Es war nicht einfach gewesen, eine erschwingliche Wohnung zu finden, in der man sich wohl fühlen konnte. Ich wollte, dass Tomika Zuversicht gewann und selbständig wurde, was aber vielleicht naiv von mir war. Denn ich erinnerte mich, als kleines Mädchen, von der eigenen Mutter schwer verletzt, in der großen Intensivstation aufgewacht zu sein und kein einziges Wort gesagt zu haben.
    «Mom will an der Beerdigung teilnehmen. Sie sagt, dass wir vielleicht was erben.»
    Ich schwieg dazu. Ich wusste nicht, ob sich Tomika berechtigte Hoffnungen machte.
    «Ich würde lieber hierbleiben.»
    «Vielleicht könntet ihr drei eine kleine Trauerfeier für euren Vater abhalten.»
    «Nein», erwiderte Michael entschieden, ein kleiner Junge, der so zornig klang wie ein Mann.
    «Den Vater zu vermissen ist ganz normal, Michael. Er war nicht immer nur schlecht. Ich wette, er konnte auch nett sein. Und in solchen Momenten wirst du ihn gemocht haben.»
    Er sagte nichts.
    «Meine Mutter hat mich oft gestreichelt», flüsterte ich. «Mitten in der Nacht, wenn ich schlimm geträumt habe. Sie hat meinen Kopf gestreichelt und mir etwas vorgesungen. Diese Mom vermisse ich immer noch.»
    «Wirst du sie wiedersehen?»
    «Nein.»
    «Hast du … hast du immer noch Angst vor ihr?»
    Ich wollte verneinen und ihm sagen, dass ich jetzt erwachsen war, mit einer Pistole umgehen, zuschlagen und alle Schatten vertreiben konnte. Aber ich mochte Michael nicht belügen und gestand: «Ja. Immer.»
    «Wie ist mein Daddy gestorben, Charlie?»
    «Mach dir darüber keine Gedanken, Michael. Du bist ein starker Junge, und deine Mutter und deine Schwester können sich glücklich schätzen, dass sie dich haben.»
    Der Boden unter meinen Füßen fing zu beben an. Die U-Bahn rollte in die Station. «Ich muss jetzt Schluss machen, Michael. Danke für deinen Anruf. Es kann sein, dass ich für eine Weile nicht zu erreichen bin. Wenn du anrufst, und ich melde mich nicht … du sollst wissen, dass ich an dich denke, Michael. Du bist ein starker Junge, und es wird alles gut.»
    «Charlie … danke.»
    Er legte auf. Ich steckte mein Handy in die Tasche und eilte zum Zug.

    Ich schaute nach links und nach rechts, bevor ich in den Zug stieg. Ich setzte mich auf die hinterste Bank, um den ganzen Wagen im Blick zu haben und sehen zu können, wer ein- und ausstieg. Die schwarze

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