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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Stattdessen legten sie mir einen Ordner vor, der Polizeiberichte aus meiner Kindheit enthielt.
    Sie wollten etwas von mir. Aber was genau, fragte ich mich, und um welchen Preis?
    «An was erinnern Sie sich?», wollte Detective Warren wissen. «Aus Ihrer Kindheit?»
    Ich zuckte mit den Achseln und starrte unverwandt auf den geschlossenen Ordner. «Nicht viel. Ich weiß nicht mehr … ich kann nicht.» Ich musste mich räuspern. «An den kleinen Bruder kann ich mich kaum erinnern. Nur an seinen Körper. Reglos am Boden, wie eine Putte aus Marmor.» Ich hielt inne, musste mich wieder räuspern. Was aber nichts half. Ich hielt den Blicken der Detectives nicht stand und starrte auf den Teppich. «Es tut mir leid.»
    «Es kann durchaus sein, dass Sie ihn lebend nie zu Gesicht bekommen haben», meinte D.D. «Die Rechtsmedizin kam zu dem Schluss, dass er zum Zeitpunkt seines Todes entweder gerade erst zur Welt gekommen oder ein Frühchen war, das nur wenige Wochen lebte. Möglich auch, dass er schon im Mutterleib starb.»
    «Jungs sind eklig», hörte ich mich sagen. «Sie werden groß und wollen, wenn sie Männer sind, nur eines von den Mädchen.»
    Es waren nicht etwa meine Gedanken, sondern die erinnerten Worte einer Aufzeichnung. Ich schüttelte den Kopf, um die Worte aus meinem Gehirn zu löschen. «Wann ist er zur Welt gekommen?»
    «Das wissen wir nicht. Es gibt keine Geburtsurkunde.»
    «Sein Name war Carter. So viel weiß ich, aber ich kann nicht einmal sagen, woher ich es weiß.»
    «Der Name stand auf einer Tupperdose.»
    Ich schnappte unwillkürlich nach Luft. «Sie hat ihn umgebracht. Ihn geboren und getötet. Das glauben Sie doch, oder?»
    Die ältere Frau zuckte mit den Achseln. «Angeklagt wurde Ihre Mutter wegen Leichenmissbrauchs und weil sie den Tod ihres Kindes verschwiegen hat. An den Überresten ließ sich nicht feststellen, ob es nach der Geburt getötet wurde oder schon tot zur Welt gekommen ist. Es liegt allerdings nahe …»
    «Was glauben Sie ?», fragte Detective O mit scharfer Stimme. «Sie haben mit dieser Frau zusammengelebt. Sagen Sie uns, was passiert sein könnte.»
    «Wie gesagt, ich erinnere mich nur an seinen Namen. Vielleicht, weil sie ihn erwähnt hat. Vielleicht ist mir auch dieser Behälter in die Hände gefallen. Ich weiß es nicht. Und ich sah seinen toten Körper. Seinen Namen habe ich mir dann zu eigen gemacht. Es war meine Art, ihn zu ehren.»
    «Aber Sie sagten doch, dass Sie sich nicht an ihn erinnern.»
    Ich schaute Detective O an. «Wie Sie vielleicht wissen, kann man sich auch selbst belügen. Es ist möglich, dass man manches weiß und auch wieder nicht weiß. Das kommt immer wieder vor.»
    «Erzählen Sie uns von Rosalind», forderte mich die jüngere Frau auf.
    «Ich habe sie geliebt. Sie hat viel geweint, und ich versuchte dann … Ich habe sie geliebt.»
    «War sie älter als Ihr Bruder?», fragte D.D.
    «Keine Ahnung. Jedenfalls hat sie länger gelebt. Richtig?»
    «Ungefähr ein Jahr», erwiderte sie ruhig.
    Ich schaute immer noch zu Boden. Der blaugraue Berber verschwamm vor meinen Augen zu einem bewegten Meer.
    «Ich war auf der Intensivstation», hörte ich mich flüstern. «Meine Mutter hatte mich gezwungen, Glühbirnenscherben zu schlucken. Ich lag auf der Intensivstation und erbrach Blut. Da kam diese Schwester an mein Bett. Sie sah freundlich aus. Und ich weiß noch, dass ich den Drang verspürte, ihr alles zu erzählen. Von dem Baby. Aber ich konnte es nicht. Meine Mutter hatte mich im Griff.»
    Die Detectives sagten nichts.
    «Ich verstehe mich selbst nicht», fuhr ich nach einer Weile fort. «Meine Tante ist eine liebe, ganz normale Frau. Ich habe kleine Hündchen und Kätzchen gern und war immer artig. Meine Mutter aber, meine eigene Mutter … Sie tat mir Schreckliches an, nur um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Trotzdem hatte ich noch Glück im Vergleich zu meinen Geschwistern.»
    «Ist das Ihr Ernst?», blaffte mich Detective O an. «Das verstehen Sie unter Glück?»
    Ich sah ihr ins Gesicht. «Was soll der Scheiß? So was muss ich mir echt nicht antun.»
    Die junge Frau fuhr sichtlich zusammen. D.D. trat zwischen uns und legte ihrer Kollegin eine Hand auf die Schulter.
    «Wir wollen nur versuchen zu begreifen, wie Sie eine so schreckliche Kindheit überleben konnten», sagte D.D., die ihre Kollegin dabei im Auge behielt. «Und wie sich Ihre Vergangenheit auf Ihre jetzige Situation auswirkt.»
    Ich konnte ihr nicht ganz folgen und schaute sie

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