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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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Ledertasche lag auf meinem Schoß. Ich hielt sie mit beiden Händen gepackt.
    Ich musterte Gesichter, sah Blicke auf mich gerichtet.
    Bis ein Fahrgast nach dem anderen aufstand und auf Abstand zu mir ging.
    Ich saß allein, fühlte mich aber trotzdem nicht sicher.

    «Charlene Rosalind Carter Grant.»
    Detective D.D. Warren betonte jede Silbe meines vollständigen Namens. Sie hatte mich in der Eingangshalle abgefangen, sich nach meinem Hund erkundigt und meine Waffe zu sehen verlangt. Es überraschte sie merklich zu erfahren, dass ich es gewagt hatte, die Fahrt nach Roxbury ohne Hund und Waffe anzutreten.
    Statt in ihr kleines Büro führte sie mich in ein Besprechungszimmer mit einem langen Tisch, an dem acht Personen Platz fanden. Es war noch jemand da, nämlich Detective O. Sie trug ein hellblaues Herrenhemd und stand vor einer großen weißen Tafel.
    Als Detective Warren neben sie trat, fiel mir auf, dass ihre Seidenbluse das gleiche Blau hatte wie deren Hemd. Dazu passte bei ihr eine schwarze Hose, bei Detective O eine dunkelgraue mit Nadelstreifen. D.D. trug ihre Locken offen, was die harten Gesichtszüge milderte; Detective O hatte ihr dichtes braunes Haar zu einem festen Nackenknoten zusammengefasst.
    Zwei aufeinander eingespielte Polizistinnen unterschiedlicher Couleur. Die eine älter, die andere jünger. Eine athletisch, eine eher feminin. Eine mit blauen Augen, eine mit dunkelbraunen.
    Beide sehr geschäftsmäßig.
    Ich wünschte, ich hätte Tulip bei mir gehabt, als eine Freundin in diesem Raum.
    «Charlene Rosalind Carter Grant», wiederholte D.D. Mein Name schien ihr zu gefallen. «Warum haben Sie uns nichts gesagt?»
    «Wie sich herausgestellt hat, ist meine Vergangenheit noch nicht abgeschlossen.»
    Sie beäugte mich misstrauisch. «Sie haben zwei Namen auf die Liste geschrieben. Rosalind Grant und Carter Grant.»
    Ich nickte.
    Sie warf mir einen Schnellhefter zu. Er fiel klatschend auf den Tisch. «Die komplette Akte. Schwester. Bruder. Mutter. Haben Sie sie jemals gelesen?»
    Ich schüttelte den Kopf und starrte auf den Ordner, ohne ihn zu berühren.
    Laut Auskunft meiner Tante war ihr von den Ärzten empfohlen worden, dass ich mich von mir aus erinnern sollte. Dieses Thema von außen an mich heranzutragen könne womöglich einen noch größeren seelischen Schaden anrichten.
    Einen noch größeren Schaden? Verglichen womit? Meinen Albträumen von einer Mutter mit Schlangenhaar, die nachts Gräber ausschaufelte, was, wie ich mittlerweile ahnte, gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt war?
    Ein kreideweißes, völlig regloses kleines Mädchen. Die fast marmorhafte Gestalt eines noch kleineren Jungen. Sie hatte ich in den vergangenen zwanzig Jahren zu vergessen versucht. Rosalind Grant. Carter Grant. Schwester und Bruder, die ich geliebt und an den Wahnsinn meiner Mutter verloren hatte. Babys, weinend hinten im Flur, und ich hatte, selbst noch ein kleines Mädchen, gewusst, dass sie meiner Hilfe bedurften. Dass ich mich einer Krankenschwester hätte anvertrauen oder mit ihnen davonrennen müssen.
    Aber ich war klein und verwundbar gewesen, meiner Mutter hilflos unterlegen. Und weil ich nichts hatte ändern können, entschied ich mich fürs Vergessen.
    Eine verrückte Mutter. Zwei getötete Geschwister.
    Was Wunder, dass ich nicht richtig tickte.
    Ich starrte auf den Ordner. Ich fand es unfair, dass das Leben meiner Schwester und meines Bruders auf diesen dünnen Ordner eingedampft war. Sie hatten Besseres verdient. Das haben wir alle.
    «Warum sind Sie am Leben geblieben?», fragte Detective O schnörkellos. «Ihre Geschwister starben. Bestimmt haben Sie sich darüber Gedanken gemacht. Waren Sie kooperativ, das gute kleine Mädchen, und die beiden anderen nervtötende Quälgeister …»
    «Hören Sie auf!» Ich wollte energisch klingen, doch meine Stimme reichte nur zu einem Flüstern. Ich räusperte mich und setzte neu an. «Wenn Sie mich fertigmachen wollen, okay. Aber machen Sie die beiden nicht schlecht. Sie waren noch Babys. Noch ein böses Wort über sie, und ich verschwinde.»
    Detective Warren warf ihrer Kollegin einen finsteren Blick zu. Sie hatte anscheinend Verständnis für mich. Oder auch nicht. Vielleicht spielten sie auch nur wieder good Cop/bad Cop. Plötzlich aber fiel mir noch etwas anderes auf: Es ging ihnen gar nicht um das Schicksal meiner Geschwister, auch nicht um den geplanten Facebook-Auftritt oder darum, was ich tun konnte, um meine Deadline zu überleben.

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