Der Tag, an dem du stirbst
bevor ich zur Arbeit ginge. Sie sollte mein Gespräch mit einer Ermittlerin des Morddezernats nicht mitbekommen, erst recht nicht, dass Detective Warren meine Mutter ausfindig gemacht hatte und inzwischen mehr über meine kleine Schwester und meinen kleinen Bruder wusste als ich selbst. Es gab auch keinen Grund, Tante Nancy darauf hinzuweisen, dass mich die Vergangenheit nun einholen würde. Dass ich mich gerade rechtzeitig zum Jüngsten Gericht an meine Unterlassungen erinnerte.
Drei Uhr, Freitagnachmittag. Neunundzwanzig Stunden vor 20:00 Uhr Samstagabend. Die Wolken hatten sich verzogen und einen so klaren, kristallblauen Himmel zurückgelassen, wie er typisch war für die bitterkalten Wintertage in Boston.
Die Sonne schien so hell, dass mir die Augen weh taten und mich zwangen, den Blick zu senken, obwohl es angebracht gewesen wäre, auf der Hut zu sein und meine Umgebung im Blick zu behalten. Die Bäume warfen bizarre Schatten auf den verschneiten Boden. An den Straßenecken türmten sich aufgeschaufelte Schneematschhaufen, hinter denen wer weiß was lauern mochte.
Was, wenn der Killer den 21. Januar nicht mehr abwarten konnte, um sich an einer jungen, wehrlosen Frau zu vergreifen? Vielleicht dachte er, dass sich der Zwanzigste besser eignete, weil sein drittes Opfer, nämlich ich, mit seinem Angriff noch nicht rechnete. Dass er um acht Uhr am Abend zuschlagen würde, war ohnehin nur eine grobe Schätzung auf Grundlage der ungefähren anderen Tatzeiten. Vielleicht passte dem Mörder in diesem Jahr der Vormittag besser ins Konzept. Oder der Samstagabend oder der Sonntagmorgen. In einem Jahr konnte viel geschehen. Womöglich hatte der Killer einen neuen Job oder eine neue Freundin, womöglich war er in eine andere Stadt gezogen oder Vater geworden.
Trotzdem musste ich damit rechnen, dass er oder sie mir auf den Fersen war. In diesem Augenblick. Vielleicht schon seit einer Woche, wenn nicht sogar das ganze vergangene Jahr über. Ich dachte an Officer Tom Mackereth, der seit einem Jahr ein Auge auf mich geworfen hatte, oder an meine Tante, die plötzlich, nach fast genau einem Jahr, vor meinem Haus aufgetaucht war. Oder vielleicht gab es eine alte Freundin, ein Mädchen aus der High School, an das ich mich nicht erinnerte und das ich kaum wiedererkennen würde, jemand, der erst gestern das alte Jahrbuch aufgeblättert hatte und den ich nie und nimmer als unmittelbare Bedrohung ansehen würde. Jemand, der clever und raffiniert genug war, mir zu begegnen, ohne dass ich alarmiert wäre.
Nach zwölf Monaten hatte ich immer noch mehr Fragen als Antworten. Außerdem setzten mir die vielen schlaflosen Nächte zu, das Ticken der Uhr, der Countdown auf eine sehr persönliche, sehr grausame Deadline zu.
Ich steuerte auf die U-Bahn-Station am Harvard Square zu, zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen und beglückwünschte mich, die Taurus zu Hause zurückgelassen zu haben, da ich in meiner derzeitigen Verfassung eine echte Gefahr für mich und andere darstellte.
Ich wünschte, es wäre schon der 21. Januar. Offen gestanden sehnte ich mir den Kampf herbei.
Hinter mir knirschte es. Schritte auf überfrorenem Schnee. Ich sprang zur Seite und drehte mich um. Zwei Studenten mit dicken Schals vor den Gesichtern kamen auf mich zu. Der Junge warf mir wegen meiner akrobatischen Einlage einen verwunderten Blick zu, legte den Arm um die Taille des Mädchens und zog es im Vorbeigehen enger an sich.
Ich war nicht mehr weit von der U-Bahn-Station entfernt, und mein Puls hatte sich wieder halbwegs beruhigt, als plötzlich mein Handy in der Tasche zu vibrieren anfing.
Ich holte es hervor, teils neugierig, teils fatalistisch, und klappte es auf. «Hallo?»
Ich hörte die Stimme des neunjährigen Michael. «Sie hat ihn angerufen. Gestern Abend. Sie hat getrunken, dann zu weinen angefangen und ihn angerufen.»
Ich sagte nichts. Mir fehlten die Worte vor lauter Scham und Schuldgefühlen. Gegenüber Michael, seiner Schwester Mica und der Mutter Tomika. Ich hatte helfen wollen und ihnen den Vater genommen, der von der Feuerleiter in den Tod gestürzt war.
«Aber er war nicht zu erreichen», fuhr Michael fort. Er sprach tonlos und schnell. «Aber unser Nachbar Tillie war zu erreichen, und er sagte, Stan wäre tot.»
«Verstehe.»
«Charlie … ist Stan wirklich tot?»
«Ja.»
«Gut.»
Die Wucht der jungen Stimme erschreckte mich und ließ mich unwillkürlich zusammenzucken.
«Sie wollte zu ihm zurück. Mit uns. Wir
Weitere Kostenlose Bücher