Der Tag, an dem du stirbst
Miene aufgesetzt. Als würde sie an einer Zitrone lutschen. Was ihr, der Tochter, übel aufgestoßen war, denn wenn sie sich recht erinnerte, war ihre Mutter auch nicht gerade die fürsorglichste gewesen. Sie war kurz nach der Geburt ihres Kindes in den Lehrdienst zurückgekehrt und hatte D.D. ebenfalls einer Tagesmutter anvertraut. D.D. hatte schöne Erinnerungen daran. Sie hatte mit anderen Kindern herumtollen können, sich dreckig machen und lachen. Es war ein regelrechtes Paradies gewesen. Zu Hause hieß es immer nur: «Hör auf zu nörgeln. Um Himmels willen, kannst du nicht mal eine Minute still sitzen?»
Still sitzen konnte D.D. immer noch nicht. Sie hatte sich schon während der ersten zwei Minuten des gemeinsamen Frühstücks dabei ertappt, dass sie ihre Serviette zwanghaft auseinander- und wieder zusammengefaltet hatte. Sonst wäre sie hysterisch geworden.
Ihre Mutter hatte eine Schale Früchte bestellt, ihr Vater ein Toast, D.D. Eggs Benedikt mit einer Extraportion Soße béarnaise. Natürlich erntete sie einen entsprechenden Blick. Fett, Cholesterin – sollte sich D.D. in ihrem Alter nicht ein wenig gesünder ernähren?
Interessanterweise konnte ihre Mutter reden, ohne ihre Lippen zu bewegen. Sie sprach lautlos, schaffte es aber trotzdem, die volle Bandbreite ihrer Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, und zwar allein mit Hilfe ihrer Augenbrauen.
Wäre D.D. nicht so wütend gewesen, hätten sie diese Fähigkeiten ihrer Mutter durchaus beeindruckt.
Während sie auf das Essen warteten, fiel kein einziges Wort. Sie saßen einfach nur da, Vater, Mutter, Tochter, die den Abstand zwischen ihnen auch nach all den Jahren nicht überbrücken konnten. D.D.s Verärgerung wich schließlich einer milden Depression. Es waren schließlich ihre Eltern, die sie auf ihre Weise liebte, wie auch umgekehrt. Schade nur, dass davon so wenig zu spüren war.
Das Essen kam. Sie aßen dankbar.
D.D. durfte sich schon Hoffnung darauf machen, mit heiler Haut davonzukommen, als ihre Mutter das letzte Stück Honigmelone geschluckt hatte, die Gabel ablegte und ihre Tochter fixierte. «Eines verstehe ich nicht so recht: Wenn dir Alex als Vater deines Kindes gut genug ist, warum ist er dir dann nicht auch als Ehepartner gut genug? Im Ernst, worauf wartest du eigentlich noch, D.D.?»
D.D. ließ ihre Gabel mit Frühstücksspeck auf halbem Weg zum Mund in der Luft verharren. Sie schaute ihre Mutter an. Etwas verspätet richtete sie den Blick auf ihren Vater, der das weiße Tischtuch musterte. Feigling.
«Es freut mich, dass dir Alex gefällt», murmelte D.D. schließlich, legte dann die Gabel ab und stürmte zur Toilette. Als sie wieder zurückkehrte, starrte ihre Mutter mit verkniffenem Gesicht vor sich hin. Ihr Vater hatte ihr eine Hand auf den Arm gelegt. Ob er sie damit trösten und um Verzeihung bitten wollte, konnte D.D. nicht erkennen.
Die beiden waren ein attraktives älteres Paar, wie sie fand, als sie sich dem Tisch näherte. Von weitem betrachtet, passten sie ausgesprochen gut zusammen. Vielleicht lag darin das Problem. Sie bildeten eine Einheit, und sie, D.D., war immer schon nur ein Zaungast dieser Ehe gewesen.
Sie küsste ihre Mutter auf die Wange und spürte deren Versteifung im Rückgrat. Auch ihrem Vater gab sie einen Kuss, worauf er mit trockenen Lippen ihre Wange streifte. Sie zahlten die Rechnung und verließen das Restaurant.
Auch den eigenen Eltern musste man manchmal zustimmen, um ihnen zu widersprechen. Theoretisch konnte sie das akzeptieren. Aber es tat weh. Es würde immer weh tun.
Immerhin wusste sie tief in ihrem Inneren, dass ihre Mutter sie liebte.
Sie fragte sich, wie Charlene über ihre Mutter dachte, die sie so grausam misshandelt hatte. Aber immerhin war sie am Leben geblieben – im Unterschied zu ihren beiden Geschwistern. Das war den Polizeiberichten zu entnehmen gewesen, die D.D. an diesem Morgen gelesen hatte.
Eltern und Kinder. Mütter und Töchter.
Liebe und Vergebung.
Und Totschlag.
D.D. griff zum Telefon und rief an.
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29. Kapitel
Ich war ziemlich aufgewühlt, als ich Detective Warren am Apparat hatte. Aufgewühlter noch als nach meinem Besuch in der Bostoner Polizeizentrale. Ich hatte meine Tante allein gelassen und mich mit Tulip auf mein Zimmer zurückgezogen. Es war nicht schwer gewesen, meine Tante nach ihrer strapaziösen Reise nach Boston zu überreden, sich ein wenig auszuruhen. Ich hatte ihr gesagt, dass ich noch ein paar Dinge regeln müsse,
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