Der Tag, an dem du stirbst
Stunden ist Charlenes Schicht vorbei, und Jon Cassir hat hoffentlich Ergebnisse vorliegen. Das heißt, uns steht wahrscheinlich ein schwerer Tag bevor. Und womöglich …» D.D. zögerte. «Womöglich auch noch eine schwere Nacht danach, denn morgen jährt sich der Mord an Charlies Freundinnen.»
«Keine Sorge», entgegnete O prompt. «Charlene wird gegen elf festgenommen, bis drei erkennungsdienstlich behandelt und danach sicher unter Verschluss sein. Wenn irgendein Killer an sie heranwill, muss er sich einen Tunnel durch Beton graben.»
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33. Kapitel
Hallo. Mein Name ist Abigail.
Keine Sorge, wir sind uns schon begegnet.
Hast du Angst vor mir? Oder hast du Angst um mich?
Vertraue mir, ich werde auf dich aufpassen.
Vertraust du mir nicht?
Hallo. Mein Name ist Abigail.
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34. Kapitel
Samstagmorgen um sieben. Noch dreizehn Stunden.
Vielleicht weniger? Vielleicht mehr?
Wer weiß? Ich hatte Feierabend, aber meine Ablösung war noch nicht eingetroffen. Deshalb hing ich an meinem Schreibtisch fest und musste Anrufe diverser Bostoner Bürger in diversen Panikzuständen entgegennehmen.
Zu Beginn meiner Schicht waren hauptsächlich Verkehrsunfälle gemeldet worden. Auto vs. Katze. Motorrad vs. Telegraphenmast. Teenager A vs. Teenager B, beide alkoholisiert.
Als gegen zwei die Bars schlossen, liefen die Leitungen heiß. Tina Limmer rief aus der Markham Street Nr. 375 an und bezeichnete ihren Freund als Dreckskerl. Vermutlich hatte sie ihn mit ihrer besten Freundin im Bett erwischt. Schlimm so was, aber ein Dreckskerl zu sein war kein Straftatbestand, und so musste ich Tina aus der Leitung werfen. Gleich darauf meldete Cherry Weiss aus der Concord Avenue Nr. 896 Feuerrauch im Treppenhaus. Ich setzte zwei Kollegen und die Feuerwehr in Marsch. Die Kollegen nahmen zwei betrunkene, siebzig Jahre alte Männer fest, die tapfer den Beweis zu erbringen versucht hatten, dass sich Fürze anstecken ließen. Die Jungs von der Feuerwehr amüsierten sich köstlich.
Dann hatte ich einen gewissen Vinnie Pearl am Apparat, der vom Wentworth Way Nr. 95 aus anrief und darüber klagte, seine Nase verloren zu haben. Nach kurzer Suche (ich lotste ihn in sein Badezimmer) fand er sie im Spiegel. Es stellte sich heraus, dass Vinnie den ganzen Freitag über fleißig Limoncello zusammengemixt hatte. Was auch erklärte, weshalb er zehn Minuten später ein weiteres Mal anrief und den Verlust seiner Lippen meldete. Er könne sie nirgends finden, der ganze Mund sei verschwunden.
Ich forderte Vinnie auf, vier Aspirin zu schlucken und mindestens einen Liter Wasser zu trinken, und wünschte ihm viel Glück.
Unmittelbar darauf registrierte ich den ersten von insgesamt drei Schlägereien in Bars, zwei Fälle häuslicher Gewalt und einen weiteren Verkehrsunfall: Hummer vs. drei parkende Autos.
Die parkenden Autos gingen als Verlierer vom Platz. Der Hummer blieb auch nicht ohne Schaden, und sein sturzbetrunkener Fahrer leistete, wie es hieß, keinerlei Widerstand, als man ihn in Gewahrsam nahm.
Um drei aß ich mein mit Hühnerfleisch belegtes Sandwich und eine halbe Grapefruit am Schreibtisch. Gegen vier wurden die Anrufe weniger, sodass ich kurz austreten konnte. Um 4:30 Uhr loggte ich mich am stationseigenen Computer bei Facebook ein. Ich wollte mir die zum Andenken an Randi und Jackie eingerichtete Seite ansehen.
Mir blieben genau acht Minuten, die lange Liste der Freunde und bittersüßen Erinnerungen zu bestaunen, bevor der Monitor wieder aufleuchtete. Diesmal ging es um Auto vs. Fußgänger. Der Fußgänger war verletzt, aber noch in der Lage gewesen, die 911 zu wählen, während der Unfallgegner das Weite suchte.
Randi hatte am Einundzwanzigsten, wie ich annahm, nichts Böses geahnt. Laut Auskunft der Polizei waren keine Drohbriefe in ihrer Wohnung gefunden worden, und ihre Yogalehrerin, die wahrscheinlich einzige ihr nahestehende Person, hatte ausgesagt, dass Randi, die recht zurückgezogen lebte, nichts habe verlauten lassen, was Anlass zur Sorge gegeben hätte. Der Einundzwanzigste war demnach wie jeder andere Tag für sie gewesen. Aufstehen und funktionieren, ohne einen Schimmer davon zu haben, dass dies der letzte Tag auf Erden sein würde.
Ist es so besser? Den eigenen Tod nicht kommen zu sehen, statt die Wochen und Tage zu zählen, wie ich es tat, das drohende Ende ständig vor Augen?
Jackie hatte am Morgen des Einundzwanzigsten geweint. Da bin ich mir sicher. Sie war ganz
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