Der Tag, an dem du stirbst
auf der Rückbank des Streifenwagens eingeschlafen und dann vermutlich von seiner Mutter in die Wohnung getragen worden, die ganze Treppe hoch bis in den dritten Stock, obwohl er dafür eigentlich auch schon viel zu groß war. Sie hatte ihn aufs Sofa gelegt und ihm die Schuhe ausgezogen, was er vor lauter Erschöpfung gar nicht gemerkt hatte.
Um sechs in der Früh war er zum ersten Mal schreiend aus dem Schlaf aufgeschreckt. Schlecht geträumt. An den Traum konnte er sich nicht erinnern, nur an einen schrecklich dünnen Dämon mit spitzen Scherben im Mund und viel zu hellen blauen Augen.
Um neun holte ihn seine Mutter aus dem Bett. Gute Nachricht: Für ihn fiel die Schule aus, und sie nahm sich ebenfalls frei. Sie wollten sich einen Erholungstag gönnen, sagte sie, hatte aber wieder diese Falten zwischen den Brauen, und er sah, dass sie nicht wirklich glücklich war und dass sie nicht wirklich Spaß miteinander haben würden.
Zum Frühstücken gingen sie in den kleinen Diner um die Ecke. Auf dem Weg dorthin rückte sie damit heraus, dass die Polizei für ihre Ermittlungen den alten Laptop brauchte. Sie habe ihn dem Officer übergeben, der sie nach Hause gebracht hatte. Sobald die Polizei mit ihren Untersuchungen daran fertig sei, könnten sie ihn wieder abholen, aber Jesses Mutter wollte das Ding nicht wieder sehen.
Als sie das sagte, schaute sie ihrem Sohn ins Gesicht. Er nickte nur stumm und protestierte nicht. Sie seufzte ein wenig, und die Falten zwischen den Augen glätteten sich für einen Moment. Eine Last war ihr genommen, aber allzu viele schien sie noch tragen zu müssen.
Jesse glaubte, seine Rolle verstanden zu haben. Er war ungezogen gewesen, die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen, und das, was er angerichtet hatte, war nicht wiedergutzumachen. Er konnte nur versuchen, einen Ausgleich zu schaffen, so wie er jeden Twinkie, den er naschte, mit einem Glas Milch ausglich. Schlechtes Verhalten durch gutes Verhalten wettzumachen.
Die Frau von der Polizei hatte am Abend gesagt, sie sei auf seine Hilfe angewiesen. Er sei Augenzeuge. Und er müsse tapfer sein und alles erzählen, was vorgefallen war. Er habe sich nichts zuschulden kommen lassen und brauche sich nicht zu schämen. Er brauche nur zu reden.
Und das hatte er auch getan. Trotzdem schämte er sich. Er schämte sich, einem fremden Jungen nach draußen gefolgt zu sein, obwohl er es eigentlich besser wusste. Er schämte sich, weil dieser Fremde vor seinen Augen die Hose heruntergelassen hatte, und noch mehr schämte er sich wegen der jungen, dünnen Frau mit den dunklen Haaren und den viel zu blauen Augen, die mit einer Pistole aufgekreuzt war und ihn auf eine Weise angelächelt hatte, die ihm irgendwie unpassend vorkam.
Wofür sich Jesse aber am meisten schämte, war die Tatsache, dass er sich schrecklich gefürchtet und vor lauter Angst die Augen zugemacht hatte. Die meiste Zeit über – nein, die ganze Zeit über.
Als er mit dem Jungen die Bibliothek verlassen hatte, hatte er gar nicht wissen wollen, was als Nächstes geschehen würde. Nun wollte er, was nicht rückgängig zu machen war, einfach auslöschen, die Bilder aus seinem Gedächtnis herausschneiden, um nicht immer wieder schreiend aus dem Schlaf gerissen zu werden und auf die Sorgenfalten seiner Mutter blicken zu müssen.
Er würde bald wieder zur Schule gehen, und allmählich würden er und seine Mutter zumindest einen Teil der alten Routine wiederfinden. Jenny und Jesse gegen den Rest der Welt.
Das wünschte er sich. Mehr als alles andere. Dass es ihm und seiner Mutter als dem unerschütterlichen Team, das sie waren, wieder gutginge.
«Mommy.» Er drehte sich um und betrachtete die schlafende Gestalt an seiner Seite.
Sie rührte sich nicht.
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. «Mommy.»
«Mmmhmm?», war leise von ihr zu hören, doch sie rührte sich immer noch nicht.
Er berührte ihr langes, braunes Haar, das sich über das Kissen fächerte. Es erinnerte ihn ein wenig an die Haare des Dämons, obwohl seine Mutter ansonsten nichts mit ihm gemeinsam hatte. Denn seine Mutter war aus Fleisch und Blut, diese Frau mit der Pistole dagegen war eindeutig ein Monster.
Jesse seufzte verhalten. Es widerstrebte ihm, seine Mutter zu wecken, aber er wusste, was er zu tun hatte. Er war ungezogen gewesen. Das ließ sich nicht ungeschehen machen. Er würde jetzt ein guter Junge sein.
«Mommy, wach auf.»
Seine Mutter stöhnte und drehte sich auf den Rücken. Ihre Lider flatterten.
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