Der Tag, an dem du stirbst
bestimmt mit ähnlich traurigen Gefühlen aufgewacht wie ich. Es war schließlich Randis Todestag, und die Polizei hatte bei ihren Ermittlungen immer noch keine Fortschritte gemacht. Unsere Freundin aus der Kindheit war einem Verbrechen zum Opfer gefallen, und wir hatten mehr Fragen als Antworten.
Jackie wird ihren letzten Tag in aller Stille begonnen haben. Vielleicht hatte sie zur Erinnerung an Randi eine Perlenkette angelegt oder frische Schnittblumen gekauft oder während der Fahrt zur Arbeit Musik von Randis Lieblingsband Journey gehört.
Ich war an diesem Morgen zum Friedhof gefahren und hatte einen großen Strauß gelber Rosen auf Randis Grab gelegt. Ich hatte Angst, ihren Eltern dort zu begegnen und nicht zu wissen, was ich sagen sollte. Aber es war niemand dort, und ich stand allein auf festgefrorenem Schnee, vor Kälte zitternd, während mir die Tränen auf den Wangen vereisten.
Jackie hatte am Einundzwanzigsten wahrscheinlich jede Menge Termine wahrnehmen müssen und kaum Zeit gehabt, an sich selbst zu denken, geschweige denn ihrer stillen Trauer nachzuhängen. Vielleicht war sie deshalb am Abend in eine Bar gegangen in der Hoffnung, das könnte sie etwas aufheitern.
Angeblich hatte sie dort eine Frau getroffen, allem Anschein nach eine ihr fremde Person, denn aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis war niemand während der letzten Stunden mit ihr zusammen gewesen. Diese fremde Frau war ihr offenbar so sympathisch, dass sie sie mit zu sich nach Hause genommen hatte.
Keine Kampfhandlungen.
Auf diesen Umstand kam ich immer wieder zurück. Nicht nur, dass sie sterben musste; sie starb auch noch ohne Gegenwehr.
Ich konnte mir das kaum vorstellen. Als J.T. mir seine Pranken um den Hals gelegt hatte, war ich für einen kurzen Moment wie paralysiert gewesen. Aber mit der Atemnot setzten die Instinkte ein, und ich kämpfte wie verrückt, um wieder Luft holen zu können.
Randi war sanftmütig gewesen, ein Lämmchen, ganz anders als Jackie, die es immer schon verstanden hatte, sich durchzuboxen, bis hinauf in die Chefetage eines großen Konzerns, obwohl sie erst sechsundzwanzig Jahre alt war.
Was also war in jener Nacht passiert? Wen hatte sie getroffen, wie konnte es geschehen, dass sie sich passiv ihrem Schicksal ergab?
An diesen Fragen knackte ich schon seit einem Jahr herum. Antworten fielen mir nicht ein, was meine Nerven umso mehr strapazierte.
Die Telefone klingelten. Meine Hände zitterten. Ich arbeitete und arbeitete mit zusammengebissenen Zähnen, immer auf dem Sprung und verzweifelt darauf aus, endlich wieder in den Besitz meiner Taurus zu kommen.
Von sieben bis acht, bis neun wartete ich auf meine Ablösung.
Um Viertel nach neun steckte Sergeant Collins den Kopf zur Tür herein und sagte, dass sich die Kollegin krankgemeldet habe. Man suche jetzt Ersatz; ich solle so lange die Stellung halten.
Es war keine Bitte, sondern ein Befehl. Das bringt dieser Job mit sich. 911-Leitungen müssen besetzt sein. Man kann erst gehen, wenn die Ablösung da ist.
Von neun bis zehn, bis elf.
Ich saß in der abgedunkelten Leitstelle, nahm Notrufe entgegen und versuchte, anderer Leute Probleme zu lösen.
Auf diese Weise endet die Welt, dachte ich in Erinnerung an ein Gedicht von T. S. Eliot, das wir in der Schule gelesen hatten. Nicht mit einem Knall, sondern mit einem Wimmern.
Ich wollte kämpfen. Was auch immer an diesem Abend geschehen mochte, ich wollte diejenige sein, die verletzt und Schaden anrichtet. Gewinnen oder verlieren. Detective D.D. Warren und ihr Team würden an meinem Tatort jede Menge Spuren sicherstellen können. Dazu war ich entschlossen.
Halb zwölf. Shirlee Wertz erschien mit einem roten Stirnband über den schwarzen Locken und einer Schultertasche voller Bücher. Wir gingen die Anrufliste durch. Ich machte sie auf Vinnie und seine verschwundenen Körperteile aufmerksam, übergab ihr mein Headset und verließ den Schreibtisch. In der Tür drehte ich mich noch einmal um.
Würde mir dieser Arbeitsplatz fehlen?
Ich hatte zwei Wochen Urlaub eingereicht, um meinen Abschied weniger dramatisch zu gestalten. Niemand stellte mir Fragen zu meiner Zukunft, was ich denn machen würde nach dem Einundzwanzigsten.
Seltsam, ich hatte einen Kloß im Hals. Ich starrte auf den ANI/ALI-Monitor und schluckte.
Mir gefiel dieser Job. Die Kollegen lagen mir am Herzen. Es war mir eine Ehre gewesen, sie mit meinen bescheidenen Mitteln und von diesem abgedunkelten Raum aus zu unterstützen. Ein Jahr lang
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