Der Tag, an dem du stirbst
hatte ich mich hier um gute Arbeit bemüht.
Viertel vor zwölf. Noch acht Stunden und fünfzehn Minuten.
Ich nahm meine Umhängetasche und verließ die Polizeistation von Grovesnor. Ich zwang mich, nicht zurückzublicken.
Ich steuerte geradewegs auf den Dornstrauch am Rand des Parkplatzes zu, vergewisserte mich, dass mich niemand beobachtete, und bückte mich, um die Waffe zu bergen.
Aber sie war nicht zu finden. Ich grub ein bisschen weiter links, ein bisschen weiter rechts, gab dann alle Vorsicht auf und buddelte mit beiden Händen im Schnee herum wie ein Terrier nach einem Knochen.
Nichts.
Die Pistole war verschwunden. Übrig blieb nur ein eisiges Loch, umkränzt von Streusand und Stadtdreck.
In der Ferne heulten die Sirenen mehrerer Streifenwagen.
Wer hatte sie genommen?
Ich hatte keinem Menschen etwas gesagt und die Waffe erst im letzten Moment versteckt, als niemand in der Nähe war. Wie hatte jemand vorhersehen können, was mir selbst erst zuallerletzt eingefallen war?
Meine Nackenhaare stellten sich auf. Mir dämmerte es.
Der Killer war in Boston.
Er/sie beschattete mich.
Und war mir bereits einen Schritt voraus.
Die Uhr war abgelaufen.
Der Angriff auf mein Leben hatte begonnen.
Wankend entfernte ich mich von dem schmutzigen Schneehaufen und rannte los, unbewaffnet und voller Panik.
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35. Kapitel
Am Samstagmorgen wachte Jesse im Doppelbett seiner Mutter auf. Sie lag am Rand, das Gesicht zur Wand, und schnarchte. Ein Arm hing von der Bettkante auf den Boden herab. Jesse wusste nicht, wie viel Uhr es war. Wahrscheinlich schon recht spät, denn es war hell im Schlafzimmer. Die Sonne zwängte sich durch die Lamellen des Rollos.
Normalerweise wäre Jesse von sich aus aufgestanden. Er hätte sich mit einer Schale Cornflakes vor den Fernseher gesetzt und Zeichentrickfilme angesehen. Oder er hätte sich ins Internet eingeloggt und wäre in die Welt von AthleteAnimalz eingetaucht.
Jetzt aber schmiegte er sich an seine schlafende Mutter. Es gefiel ihm, ihren weichen, warmen Körper im Rücken zu spüren. Er fuhr mit der Hand über die rot geblümte Bettdecke und starrte auf die grau gestrichene Wand auf der anderen Seite.
In seinem Alter gehörte es sich eigentlich nicht mehr, bei seiner Mutter im Bett zu schlafen. Wehe, die Jungs in der Schule erführen davon. Aber bald würde er ohnehin wieder in sein eigenes Bett umziehen. Morgen oder übermorgen Abend, hatte seine Mutter gesagt. Genauso wie die Therapeutin. Es müsse wieder Normalität einkehren, meinten beide, doch als seine Mutter diese Worte aussprach, hatten sich zwei Falten zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Er mochte diese Falten nicht. Wenn er sie sah, war er immer versucht, sie mit der Hand glatt zu streichen.
Er hatte seiner Mom weh getan, schlimmer noch: Er hatte sie zu Tode erschreckt. So wie er bei jedem lauten Geräusch zusammenzuckte, konnte sie nicht anders, als ihn ständig im Auge zu behalten. Gestern hatten sie darum den ganzen Tag auf dem Sofa gesessen, sich idiotische Fernsehshows angesehen und Junkfood gegessen, so viel, dass selbst Jesse fürchtete, seinen Gehirnzellen damit zu schaden. Ihm war tatsächlich, als wüchsen Warzen in seinem Kopf, als wucherte in seinem Schädel ein Zombie-Hirn heran.
Er hatte den angeknabberten Schokoriegel beiseitegelegt und um einen Apfel gebeten.
Als seine Mutter daraufhin in Tränen ausgebrochen war, hatte er wieder nach dem Schokoriegel gegriffen, den sie ihm aber sofort aus der Hand nahm. Der Riegel schien also nicht das Problem zu sein.
Er war ungezogen gewesen. Daran lag es. Er hatte sich nicht an die Regeln gehalten, war einem Fremden gefolgt, einem Dämonen begegnet und hatte einen Jungen sterben sehen. Und das war nicht mehr rückgängig zu machen. Es war geschehen, weil er nicht auf seine Mutter gehört hatte. Und jetzt … jetzt …?
Wenn es bloß möglich wäre, die Zeit zurückzudrehen, so wie man ein Video zurückspulen konnte. Er stellte sich vor, rückwärts in die Bibliothek zu gehen und sich zu einem fremden Jungen zu setzen, nur dass er diesmal sofort wieder aufstand und zu seiner Mutter nach unten ging. Schau, da ist Jesse bei seiner Mutter. Bleib, Jesse, bleib! Sei ein guter Junge, und deine Mutter muss nicht weinen.
Die Polizei hatte den Laptop mitgenommen. Irgendwann zwischen Donnerstagabend und Freitagmorgen, schätzte er. Er war auf dem Nachhauseweg von der Polizeistation nach den vielen Fragen, die er dort hatte beantworten müssen,
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