Der Tag, an dem du stirbst
Gähnend starrte sie unter die Decke.
Ihrem Gesicht, das im Schlaf noch entspannt gewesen war, sah er an, dass sie allmählich wach wurde. Es bildeten sich wieder die Falten zwischen den Brauen. Sie schaute ihn an.
«Gut geschlafen, Liebling?», fragte sie, aber sogar ihre Stimme war angespannt.
«Ich liebe dich, Mommy.»
«Ich dich auch, mein Schatz.» Sie nahm seine Hand. «Schlecht geträumt?»
«Nein. Ich will heute auch keine Twinkies.»
«Okay.»
«Wir sollten nach draußen gehen. An die frische Luft.»
«Okay, Jesse.»
«Zum Frühstück esse ich Haferflocken. Ohne Zucker. Nur mit Milch, so wie du.»
«Jesse …»
«Ich liebe dich, Mommy.»
«Ich dich auch. Kopf hoch, Jesse. Es wird alles gut.»
Er fing an zu weinen. Warum, wusste er selbst nicht. Er hatte nicht weinen wollen. Seine Mutter streckte die Arme aus. Er schmiegte sich an ihre Brust, wie er es als kleines Kind getan hatte, und als sie ihm den Kopf streichelte, weinte er noch mehr, denn er liebte seine Mommy, und er liebte es, wenn es hieß: Jenny und Jesse gegen den Rest der Welt.
Die beiden stiegen aus dem Bett. Sie machte Frühstück, er setzte sich an den Tisch. Beide aßen Haferflocken, in Milch langsam aufgekocht, weil seine Mutter ausnahmsweise Zeit hatte. Er führte den ersten Löffel zum Mund, kniff die Augen zusammen und schluckte tapfer.
Seine Mutter lachte laut auf, als sie seine gequälte Miene bemerkte.
Auch er musste lachen und nahm einen zweiten Happen. So schlimm war er gar nicht, der ungezuckerte, schleimige Brei. Er würde sich daran gewöhnen. Vielleicht.
Nach dem Frühstück packten sie ein paar Sachen zusammen und gingen in den Park. Es war kalt. Minus zwölf, sagte seine Mutter. Aber die Sonne schien und ließ den Schnee so hell erstrahlen, dass es in den Augen weh tat.
Plötzlich – er saß auf der Schaukel und schwang sich hoch in den blauen, blauen Himmel hinauf – fiel es ihm wieder ein.
Vor lauter Erregung ließ er im Scheitelpunkt der Pendelbewegung kurz die Ketten los und wäre fast vom Sitz gerutscht. Aber er reagierte schnell, streckte die Beine aus und bremste mit den Füßen am Boden ab. Rasch rannte er zu seiner Mutter.
«Ich erinnere mich, ich erinnere mich. Du musst die Detectives anrufen. Ich kann ihnen was sagen.»
«Okay, okay. Was ist es denn, Jesse?»
«Ihre Augen, diese blauen, blauen Dämonenaugen. Ich weiß jetzt, warum sie wie ein Monster ausgesehen hat.»
«Warum denn, mein Schatz?»
«Weil sie nicht echt sind, Mommy. Ich habe so was schon mal gesehen. In einem Katalog für Halloween-Kostüme. Es gibt da diese Kontaktlinsen, für Vampire, Zombies und auch für Katzen. Blaue Katzenaugen. Solche Linsen hat sie getragen. Sie war gar kein echter Dämon. Sie hat sich nur so verkleidet.»
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36. Kapitel
Um sechs schreckte D.D. aus dem Schlaf, nicht etwa vom Wecker geweckt, auch nicht vom Weinen ihres Babys. Selbst Alex schlief noch tief und fest. Es dauerte eine Weile, bis sie den Grund ihrer Unruhe benennen konnte. Es war der 21. Januar. Der Jahrestag der Morde. Der Tag, von dem Charlene Grant glaubte, dass er ihr letzter sein würde.
D.D. verließ das Bett.
Sie warf sich Alex’ dunkelblauen Morgenmantel über und tappte in die Küche, um Kaffee zu machen. Weil ihr Handy griffbereit auf der Anrichte lag, schaute sie nach, ob Textnachrichten eingegangen waren. Nichts.
Sie verzog sich ins Bad, putzte ihre Zähne und musterte im Spiegel die dunklen Schatten unter den Augen, die bleiche Farbe des übernächtigten Gesichts, wobei ihr auffiel, dass die Haut unterm Kinn wieder ein wenig schlaffer geworden war. Dass sie einundvierzig wurde, machte sich unmissverständlich bemerkbar. Vergrätzt kehrte sie zu ihrer ersten Tasse Kaffee in die Küche zurück, wo sie ihren Anrufbeantworter im Büro anwählte, um eingegangene Nachrichten abzuhören. Wieder nichts.
Eigentlich war ein Anruf bei den Eltern fällig, die sie seit fast vierundzwanzig Stunden erfolgreich geschnitten hatte. Was diese ihr bestimmt verübelten, wohl zu Recht.
Aber das Frühstück ging vor.
Sie briet Speck und Eier und hatte gerade angefangen, Waffeln zu backen, als Alex schlaftrunken in die Küche geschlurft kam. Er trug einen Sweater der FBI-Academy über dem weißen T-Shirt und dem türkisfarbenen Kittel, den er als Nachthemd bevorzugte. Auf seinen Wangen lag ein Schatten graumelierter Stoppeln. Die linke Schulter des Sweaters war mit Babysabber bekleckert.
Auch nicht mehr der Jüngste,
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