Der Tag, an dem du stirbst
schon.»
«Und dann nehmen wir uns die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vor», schlug D.D. vor. Über die ganze Innenstadt Bostons waren Hunderte solcher Kameras verteilt, von der Stadtverwaltung, Unternehmen oder sogar von Privatpersonen installiert, die sich vor Kriminalität zu schützen versuchten. «Man kann nie wissen, vielleicht entdecken wir darauf einen sechzehn- bis fünfundzwanzigjährigen weißen Mann mit schwarzem Wintermantel und dunkelblauer Strickmütze.»
Phil und Neil belächelten ihren Vorschlag. «Im Ernst», setzte sie nach. «Vergesst Garderobe und Altersgruppe. Wir suchen einen weißen Typen. Wie viele seht ihr da draußen? Hier, in dieser Nachbarschaft? Ein Weißer sticht hervor. Nutzen wir diesen Vorteil.»
«Sollten wir die Medien einschalten?», fragte Phil.
Darüber musste sie erst einmal nachdenken. «Vielleicht, wenn wir ein genaueres Profil des Täters haben. Vorher hat’s keinen Zweck.»
Neil wirkte überrascht. «Aber es geht hier um zwei Morde, und der zweite liegt schon eine Weile zurück. Das heißt, wir suchen einen Täter, der wahrscheinlich schon sein drittes Opfer im Visier hat.»
«Du meinst, einen dritten Kinderschänder», murmelte Phil.
D.D. dachte weiter. «Was macht euch überhaupt so sicher, dass es sich um ein und denselben Täter handelt? Habt ihr Zeugen dafür? Hat die Ballistik schon ihren Bericht vorgelegt mit dem Ergebnis, dass die hier sichergestellten Kugeln aus derselben Waffe abgefeuert wurden wie die am Tatort Antiholde?»
Neil schüttelte den Kopf.
«Na also. Keine Hektik bitte. Ich will die guten Bürger Bostons nicht unnötig in Panik versetzen. Und … vielleicht möchte ich auch nicht, dass die Perversenszene unserer Stadt alarmiert wird.»
Neils Augen rundeten sich ein wenig. Er hatte verstanden, worauf die Kollegin anspielte, und warf einen Blick auf Phil, dessen Gesicht so versteinert war wie ihres.
«Wow», flüsterte Neil. «Und ich dachte, Mutter zu sein hätte sie ein bisschen sanfter …»
Seine Stimme riss ab. Das jüngste Teammitglied schien bemerkt zu haben, dass er diesen Gedanken besser nicht ausgesprochen hätte.
Doch D.D. gab ihm nur einen Klaps auf den Rücken. «Ja, du hast mir auch gefehlt», lachte sie. «Also dann, ich muss um fünf zu Hause sein. Uns bleiben also noch …» Sie schaute auf ihre Armbanduhr. «Ungefähr sechs Stunden, um den Killer zu schnappen. Legen wir los.»
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3. Kapitel
Ein paar Stunden später war die Analyse des Tatorts unter D.D.s Aufsicht abgeschlossen. Den Ammoniakgestank hatte sie nach einer Weile gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, geschweige denn den Geruch des Hundekots. Sie ging anschließend nach unten vor die Tür und dachte nach. Über mehrere Dinge gleichzeitig: Sie sollte bald nach Hause gehen; sie sollte Kontakt aufnehmen mit dem Chefermittler des vorausgegangenen Mordfalles. Gab es Chancen für die Bewilligung einer zusätzlichen Kraft zur Sichtung der Videoaufzeichnungen, oder würde man sie damit allein lassen? Phil wäre wahrscheinlich mehrere Tage mit den Computerdaten beschäftigt. Und was Neil anging, befürchtete sie, dass ihn die vielen Fotos überfordern könnten. Durchaus möglich, dass sie und Phil ihm die Arbeit würden abnehmen müssen. Solche Aufnahmen waren nur schwer auszuhalten, egal wie nüchtern man an eine solche Aufgabe auch heranging. Sie würde also auf Neil aufpassen und sehen müssen, wie er mit seiner Aufgabe fertigwurde. Womöglich brauchte er eine Seelenmassage. Vielleicht sogar einen therapeutischen Kneipenbesuch? Für einen Sergeant war die Rücksicht auf Mitarbeiter ebenso wichtig wie die Arbeit an einem Fall, und D.D. nahm das ernst.
Sie stieg die Eingangsstufen hinab, traf auf frische Luft und atmete tief durch. Kamerablitze blieben aus; eine Schießerei in diesem Viertel war uninteressant. Sobald die Medien allerdings Wind davon bekamen, welche Art Fotos das Opfer gehortet hatte, brächten sie ruck, zuck den Mord mit jenem Vorfall vor vier Wochen in Verbindung. Und dann …
Aber fürs Erste war alles ruhig, und D.D. genoss die Ruhe, so lange sie vorhielt.
Sie ließ die Gaffer hinter sich zurück, von denen die meisten gelangweilt aussahen, zumal polizeiliche Ermittlungen längst nicht so aufregend waren, wie es das Fernsehen vorgaukelte. D.D. vergrub die Hände in den Taschen, duckte sich in die bittere Januarkälte und steuerte auf ihren Wagen zu, den sie einen Block entfernt geparkt hatte.
Schon auf fünfzig
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