Der Tag, an dem du stirbst
entgegnete Abigail. «Das weiß ich, weil ich die Einstichwunde gesehen habe.»
«Es hat gebrannt.»
«Ach, daran erinnerst du dich.»
«Ich erinnere mich an Blut und Flammen und daran, dass ich mich über die Kälte gewundert habe.»
«Sie wollte das Haus abfackeln.»
«Nachdem sie mich niedergestochen hatte?»
«Ja. Zuerst warst du an der Reihe, aber was genau passiert ist, weiß ich nicht, denn ich war oben in meinem Zimmer. Sie ist dann zu mir hoch, hat mich runter in die Küche geführt und mit Streichhölzern herumhantiert. Ich konnte nicht weg. Sie wollte wohl, dass wir bei lebendigem Leib verbrennen. Aber dann bist du aufgetaucht und hast ihr diese schwere alte Tischlampe über den Schädel gezogen.»
«Das habe ich getan?»
Sie schaute mich an, und ihre Augen verrieten noch mehr Verunsicherung, was mir Hoffnung machte. «Du erinnerst dich wohl tatsächlich nicht.»
«Ich wünschte, ich könnte mich zumindest daran erinnern, ihr weh getan zu haben. Im Nachhinein kommt es mir vor, als hätte ich mein Leben lang zu lernen versucht, selbständig zu denken und zu handeln. Als ich noch zu klein gewesen bin, um mich zu wehren, spukte sie mir ständig durch den Kopf. Ich habe achtundzwanzig Jahre gebraucht, um eigene Gedanken zu entwickeln und meine eigene Identität zu finden. Unsere Mutter war krank, Abigail. Und als kleine Kinder waren wir ihr ausgeliefert. Aber jetzt sind wir erwachsen, und sie ist tot. Sie bestimmt nicht länger über uns. Wir haben letztlich gewonnen und können wir selbst sein.»
«Ich habe sie damals, in dieser Nacht, zu töten versucht», murmelte Abigail, ohne auf meine Worte einzugehen. «Ich dachte, du wärst tot und ich würde ohne dich nicht überleben können. Als kleines Kind fühlte ich mich viel zu schwach. Als sie wieder zur Besinnung kam, habe ich mir die Lampe geschnappt, um noch einmal zuzuschlagen, aber bevor ich dazu kam, trat sie mit den Beinen aus, und ich lag am Boden. Dann hat sie die Lampe genommen und mich damit verprügelt.»
Ich zuckte zusammen. Ein Schauer überkam mich … nein, eine Schockwelle, die mir durch Mark und Bein ging. Im ersten Moment wusste ich nicht zu unterscheiden, ob mein Blutzuckerspiegel abgesackt war oder ob verschüttete Erinnerungen in Bewegung gerieten und eine Art Beben verursachten.
«Ich habe dich sterben sehen», hörte ich mich flüstern. «Ich … sie … sie hat dich erschlagen. Mit der Lampe. Ich erinnere mich wieder. Ich lag am Boden und konnte nichts tun. Ich konnte keinen Finger rühren, keinen Laut mehr von mir geben. Umso lauter schrie es in mir. Ja, daran erinnere ich mich jetzt wieder. Mir war heiß und kalt zugleich, und mein ganzer Körper schrie, als du zu Boden gestürzt bist und sie aufstand. Und plötzlich hatte sie diese Lampe in der Hand. Sie holte damit aus und schlug auf dich ein.
Du ahnst nicht, Abby, wie lange ich dich vor ihr beschützt habe, wie oft ich nachts mit dir durch den Wald gelaufen bin, dich unter dem Bett oder auf dem Dachboden versteckt habe. Den beiden anderen konnte ich nicht helfen. Ich war nicht gewitzt genug, nicht stark genug. Aber dich habe ich beschützen können, und ich dachte, wenn du erst mal drei oder vier sein würdest, hätten wir’s geschafft. Ich habe dich geliebt, Abigail.»
Meine Stimme brach ab. Ich zitterte wie Espenlaub, während meine Gedanken durcheinanderwirbelten und sich nicht mehr ordnen ließen. Mit dem absackenden Blutzuckerspiegel stellten sich Verwirrung und Orientierungslosigkeit ein. Und tiefe Trauer. Um meine kleine Schwester, die ich hatte sterben sehen oder von der ich damals annahm, dass sie die Attacke unserer Mutter nicht überleben würde. Ihren Tod vor Augen war etwas in mir zerbrochen, das kein Arzt hatte flicken können.
«Ich bin nicht gestorben», erwiderte Abigail. Ihre Hände zitterten ebenfalls. Sie konnte die Waffe nicht ruhig halten.
Ich hätte meinen Vorteil daraus ziehen sollen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich griff zur Wand, um mein Gleichgewicht zu halten.
Darauf war ich nicht trainiert, dachte ich. Auf solche Komplikationen hatte ich mich nicht vorbereitet.
«Ich habe überlebt», fuhr Abigail mit rauer Stimme fort, in der Vorwurf und Traurigkeit mitklangen. «Sie floh mit mir aus dem Haus. Es war entsetzlich. Ich habe jede Nacht für dich gebetet, Charlie. Du warst meine große Schwester und hattest mir versprochen, mich zu retten. Ich habe für dich gebetet . Nacht für Nacht. Als
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